THEATER Erotischer Notstand
Jubel im Stuttgarter Schauspiel, und nicht nur der Gert-Voss-Fanclub sorgt dafür. Ivan Nagel, der neue Intendant, hat dem Stuttgarter Publikum zur Erholung nach Jahren schwerer Klassiker-Fron erst einmal frische Lust am Komödiantischen verordnet. Er hat als Salut mit einer Jerome-Savary-Revue begonnen, Titel »Bye Bye Show-Biz«, nun schickt er Tschechows melancholischen Clown Platonow hinterher. Und den spielt, als Heimkehrer gefeiert, der unwiderstehliche Gert Voss.
In der längst verklärten Stuttgarter Peymann-Zeit ist Voss dort zum Publikumsliebling geworden, in den anschließenden Bochumer Jahren auch zu einem der großen Schauspieler seiner Generation. In Bochum war er, gewissermaßen gleichzeitig, als eitler Cheruskerfürst in Kleists »Hermannschlacht« zu sehen, als rasender Slapstick-Artist in einer Dario-Fo-Farce, und als neunzigjähriger Diener in Tschechows »Kirschgarten« - da brauchte er, ein klapperdürres Greisengespenst, bloß mit zahnlosem Gebrabbel über die Hinterbühne zu schlurfen, um den Hauptakteuren vorne die Schau zu stehlen. Voss scheint alles zu können, und die ganze Menschlichkeit einer Figur ist für ihn erst erfüllt, wenn er auch ihre Lächerlichkeit gefunden hat. Die liegt bei Tschechows Platonow allerdings auf der Hand.
Dieses Jugendwerk, das romanhaft ausschweifende Un-Stück eines 21jährigen, hat alle Genialität des ersten großen Wurfs, der schon Tschechows ganze Welt entfaltet. In der weiblichen Hauptfigur, einer Gutsherrin, sind all die Tschechowschen lustigen Witwen vorgeprägt, die sich, nicht mehr taufrisch, doch um so lebensgieriger, als Sommerzeitvertreib auf dem Land von den Nachbarn hofieren lassen. Und die männliche Hauptfigur ist der Prototyp all der Tschechowschen Anti-Helden, die, noch jung, schon in ihrer Lebenskraft irreparabel gebrochen erscheinen: verkrachte Studenten, mißlungene Künstler, Selbstmörder in spe.
Platonow ist sogar der größte von allen: Vor ein paar Jahren noch sahen seine Freunde in ihm ein strahlendes junges Genie, nun, noch nicht dreißig, ist er versackt in einer mediokren Dorfschulmeister-Existenz, in der trüben Nestwärme von Weib und Kind. So zeigt Gert Voss ihn als einen Erledigten, unrasiert und verpennt, einen fahrigen Alkoholiker, dem der Abglanz seines einstigen Charmes zur Grimasse gerät, weil jedes Lächeln schon recht faulige Zähne bloßlegt - was ihn für alle Frauen unwiderstehlich macht, ist nur die edle Aura des Unglücks.
Tschechows erstes Stück zeigt illusionsloser, offener als die späteren, daß die Langeweile und Lebensleere, die seine Figuren so gern beklagen, ihren Grund nicht in einem metaphysischen Notstand hat und nicht im mählichen, unabwendbaren Untergang der herrschenden Klasse, sondern, viel akuter, in einem Mangel an elektrisierender Erotik in der lauen Sommerluft.
Diesen Zug kehrt Michaels Frayns Bearbeitung mit dem Titel »Wilder Honig«, die in Stuttgart zur deutschen Erstaufführung kam, kräftig hervor; sie rückt das Stück in die Nähe der Tschechow-Huldigung eines anderen großen Tschechow-Verehrers, Woody Allens »Midsummer Night''s Sex Comedy«.
Tschechow-Übersetzen ist Frayns Passion, sein ernstes Gewerbe ist das Klamotten-Schreiben, da gehört er zur Weltspitze. Mit den Tantiemen, die ihm in den letzten drei Jahren allein seine Farce »Noises Off« (Der reinste Wahnsinn) im West End, am Broadway, in Paris und auf bald 20 deutschsprachigen Bühnen eingespielt hat, könnte er sich wohl sehr lange sorglos der Tschechow-Philologie widmen.
Aber diesmal war nicht Philologie gefragt. Der Tschechow-Liebhaber Frayn hat sich mit dem Schwank-Profi verbündet, um aus Tschechows Stück-Monstrum mit all seinen wilden Handlungsumschwüngen eine schlanke Komödie herauszuschälen. Es ist die frechste Platonow-Fassung, die man sich denken kann, die schlaueste, auf ihre Weise so unwiderstehlich, daß sie mittlerweile sogar ins Russische zurückübersetzt worden ist - und der Stuttgarter Regisseur Arie Zinger genießt ohne Skrupel die Schärfe, mit der sie zur Sache geht.
Es ist Zingers dritte Tschechow-Inszenierung, und sie ist wieder so unmelancholisch aggressiv, daß Zinger sich nun nicht einmal mehr auf seine kritischen Gegner verlassen kann: Beim letztenmal, bei der »Möwe« in München, rief die »Süddeutsche Zeitung« noch nach einem Nothelfer, der diesem Regie-Missetäter das Handwerk legen sollte, jetzt in Stuttgart sieht sie doch eine bessere Zukunft für ihn - als »Animateur« in einem Urlaubs-Rummel-Klub.
So eine Schande scheint es zu sein, gute Laune zu produzieren. In der Tat: Zinger interessiert sich mehr für den scharfen Umriß einer Figur als für ihre verschwimmende Tiefe, er treibt die Dissonanzen hervor und legt keine tröstlichen Moll-Modulationen darüber, er macht Theater mit Leidenschaft. Er nimmt rasenden Schmerz, Unglück, Todesverzweiflung ganz ernst, gönnt dem aber nichts von jener Verklärung, die man »Tragödie« nennt.
Vor ein paar Wochen erst, in Zadeks »Herzogin von Malfi« im Hamburger Schauspielhaus, hat Gert Voss einen aasigen, eisigen Renaissancefürsten gespielt, der sich im Wahnsinn des Blutrausches in einen fauchenden, zähnefletschenden Werwolf verwandelt. Vielleicht kam der Tschechow doch etwas zu rasch nach dieser Tour de force; für den »reinsten Wahnsinn«, den auch das farcenhaft überdrehte Platonow-Ende braucht, reichten die Kräfte nicht ganz, für die Entsetzlichkeit des so blöden wie unabwendbaren Todes, in den dieser Clown stockbesoffen hineinstolpert.
So erscheint, für einmal, das Wunderbare an Voss als Handikap: Weil er fast alles kann, wirkt fast alles ein bißchen zu leicht, diesmal sogar das Sterben.
Urs Jenny _(Mit Emanuela von Frankenberg. )
Mit Emanuela von Frankenberg.