»Ersäuft wie junge Katzen im Sack«
Wenn Buchheim an einem prunkvollen Herbsttag in Feldafing in seinen Garten geht, sieht er mehr als wir anderen: »Man muß bloß mal so einen vom Föhnwind zusammengewehten Laubhaufen genauer ins Auge fassen. Was gibt es da nicht alles an Gekräuseltem, bizarr Verdrehtem, Zerfranstem, Gezacktem! Und was ist ein einziger Goldrutenstengel für eine Pracht! Die Blätter hängen braun wie Tabak herab, aber oben ragen die Blütenstände mit merkwürdigem Ockergrau in den föhnblauen Himmel.«
Dann möchte Buchheim das Erschaute aquarellierend oder schreibend festhalten - »den Teich, die Spiegelung der Rotbuchen, die treibenden Blätter, die halb schon ins Wasser versunken sind, die orangenen Schatten der Goldfische«. Oder die Berge im Süden, wie sie auf dem Dunst über dem Starnberger See »schwimmen": »Das Gebirge hat kein Gewicht, es könnte aus hauchdünnem Japanpapier gerissen sein.«
Oder einfach nur halb aufgeplatzte Kastanien: »Das wie Toastbrot pampige weiße Fleisch, die grüne Schale und das Caput-mortuum-Braun der Kerne. In diese Farben war Georges Braque verliebt, dieses Grün der Schalen zum Braun der Früchte hat er immer wieder versucht.«
Les vraies richesses nennt Buchheim solche Dinge: die wahren Reichtümer. Sie sind umsonst und häufig eßbar: Hallimasch-Pilze, in Speck gebraten, mit viel Knoblauch, gibt es in dieser Jahreszeit bei Buchheim und seiner Frau Diethild, genannt »Ditti« (als welche sie vom mitteldeutschen Mundwerk Buchheims gleichwohl zur »Diddi« weichgewalkt wird). Auch Haselnüsse, frisch vom Busch gepflückt, werden von beiden außerordentlich geschätzt.
Bedachtsam beschreibt er das allherbstliche Ritual: »Auf die Treppe zum Hauseingang niedergehockt, klopfen wir (die Nüsse) mit einem ''Fäustling'' auf - einem Bachkiesel, der sich gut in die Hand fügt und so schwer ist, daß man die Nuß nur leicht anzutippen braucht: Schon ist die Schale zerspellt, und der mattbraune Kern liegt zutage. Wir trinken
Weißwein zu den Nüssen, einen trockenen, eher schon herben.«
So könnte er''s aushalten, so im Einklang mit sich und der Schöpfung - trotz der Hungerkuren, zu denen er sich immer wieder zwingen muß, trotz der Beschwerden, die den »bresthaften Corpus« des 67jährigen zwacken. Mild wie die Altweibersonne möchte er sein, Buchheim, der Idylliker, Buchheim, die Künstlernatur, die Farbnuancen nachspürt wie Marcel Proust dem Geschmack einer Madeleine, Buchheim, der Gemütsmensch, der ein Auge und ein Herz sogar für die kommune Moorassel hat - Buchheim, das unbekannte Wesen.
Denn dem Zeitgenossen fällt bei diesem Namen der öffentliche Buchheim ein, der Rauhbauz, das barocke Urvieh, der Egomane, der polternde späte Nachfahr des starken Sachsen-August, als der er meist vors Publikum tritt. Die Mitwelt kennt ihn als Schutzpatron und Missionar der Malerei des deutschen Expressionismus, als Sammler und drachengleichen Hüter eines Bilderschatzes im Wert von mindestens 80 Millionen, den er der Stadt Duisburg übergeben wird auf die Bedingung hin, ein eigenes Museum dafür zu bauen - in diesen Tagen war Richtfest. Lothar-Günther Buchheim aus Chemnitz (heute Karl-Marx-Stadt), das ist für viele, die durch ihn erlittene Wunden lecken, auch ein cholerischer Stänkerer, ein unausstehlicher Rechthaber und Runtermacher, ein einstiger Gau-Jugendmeister im Ringen und Raufbold, der ungezählte Händel mit den Kulturbürokraten, Filmproduzenten, Fernsehgewaltigen und Umweltverschandlern ausgefochten hat. (Er hingegen neigt zu der Ansicht, daß er sich den »Geizkragen und Kotzbrocken Buchheim« angezogen habe wie ein Landsknechtswams, um sein empfindliches Innenleben gegen die Pfeile des wütenden Geschicks und die Zumutungen seiner Mitmenschen zu wappnen.)
Vor allem aber erkennt eine kaum übersehbare Schar von Erdbewohnern aller Quadranten in ihm den Schriftsteller, der mit bedrängender erzählerischer Kraft den U-Boot-Krieg geschildert hat, den Krieg im Dunkel, den nur die Täter und Opfer beider Seiten kannten, den Krieg mit den wenigsten Überlebenden.
Buchheims Buch »Das Boot« hat weltweit eine Auflage von mehr als 2,5 Millionen erreicht. Der Film daraus ist die international meistverkaufte deutsche Film- und Fernsehproduktion. Ende Februar dieses Jahres verfolgten nahezu 24 Millionen Zuschauer allein in der Bundesrepublik drei Abende lang auf dem Bildschirm die Schreckensfahrt der Männer in der dröhnenden Stahlröhre von U 96.
Ist dies alles - und viel, viel mehr an Kunstbüchern, Künstler-Monographien, Photobänden des obendrein auch noch meisterlichen Photographen Buchheim, gar nicht zu reden von den drei Häuser füllenden Kuriositäten und Kostbarkeiten, von Riechfläschchen und dreitausend Briefbeschwerern bis zu Südsee-Fetischen und Karussellgäulen, die Lothar-Günther und Diethild Buchheim, so er selbst, »wie manische Eichhörnchen« _(Mit Kameramann Jost Vacano, Regisseur ) _(Wolfgang Petersen, Schauspieler Jürgen ) _(Prochnow. )
herbeigeschleppt und aufgehäuft haben - ist das nicht genug? Könnte Buchheim sich jetzt nicht Ruhe gönnen? Die eingeholte Ernte genießen, nach Eichhörnchenart? Den lieben Gott einen guten Mann sein lassen?
Er könnte. Er brauchte wirklich nichts mehr zu tun als seiner Schildkröte zuzuschauen, wie sie durchs Gras robbt, oder, mit seinen Worten, »einfach im hinsterbenden violetten Phlox zu sitzen und zu staunen, zu welch mild leuchtendem altmodischen Violett Phlox fähig ist«.
Doch gerade in solchen Momenten ergeht es ihm oft wie damals in der Normandie 1944, als er in einem Obstgarten friedliche Vegetation auf seinen Skizzenblock strichelte und »selbstversunken« Ort und Zeit vergaß: »Plötzlich pfiff, rauschte und dröhnte es dann. Ein feindlicher Jagdflieger hatte zwischen den Obstbäumen meinen weißen Block erspäht.« Wofür der Pilot Buchheims Zeichenblock auch gehalten haben mochte, er ließ eine Bordkanonen-Salve in die verträumte pommaie prasseln, dieweil der aufgescheuchte junge Künstler hinter eine Feldmauer hechtete.
Denn der Krieg überfällt Buchheim noch immer - nicht mit Bordwaffen, und doch beängstigend genug. Im hellen Sonnenlicht, auf fester Erde stehend, spürt er auf einmal tief in der Magengrube wieder die »tausend Stockwerke Nacht«, die im Atlantik unter dem Kiel eines U-Boots klaffen. Erinnerungen flammen in seinem Bewußtsein auf »wie mit Blitzlicht geschossene Szenen, die dann erstarren«.
Buchheim brüllt nicht »Alarm!« und läßt sich nicht durch imaginäre Turmluken fallen, wenn bei ihm der Wecker klingelt. Aber er kommt, obwohl sein Leben seit 1945 alles andere als ereignislos war, von den stählernen Särgen der deutschen Kriegsmarine nicht los.
Er hat sie sich nicht, wie erhofft, von der Seele schreiben können. Im Gegenteil, die langen Jahre der Erinnerungsarbeit an dem Buch haben ihm das Kriegserlebnis erst recht unverwischbar eingeätzt. Und je älter er wird, desto weniger kann er »die armen Schweine« vergessen, die ihr Leben nicht leben durften wie er und die vraies richesses nie erfahren haben bei Haselnüssen und Wein, weil sie mit 22 oder 20 Jahren, sogar mit 16 oder 17 ausgelöscht worden sind, in untergehenden Unterseebooten, sagt Buchheim, »ersäuft wie junge Katzen im Sack«.
Er nimmt sein neues Buch zur Hand, klappt den Deckel auf, tippt, »da sind sie!«, auf das doppelseitige Photo auf dem Vorsatz. Gut hundert blaue Jungs mit Mützen und Bändern sind zu sehen, in sechs, sieben Reihen übereinander gestaffelt auf dem Deck eines Schulschiffs, von einem heiteren Himmel beschienen, blinzelnd, grienend, feixend.
Die Blüte der Nation. Mit ihren offenen Matrosenkragen wirken die Jungmänner noch argloser, noch treuherziger, als es in ihren Gesichtern geschrieben steht. Blüte der Nation, zum Ersäuftwerden bestimmt. Buchheim macht sie in dem neuen Buch »Die U-Boot-Fahrer« mit seinen Photos und Texten wieder lebendig und schildert dann, wie sie zugrunde gerichtet wurden - und von wem. _(Lothar-Günther Buchheim: »Die ) _(U-Boot-Fahrer«. C. Bertelsmann Verlag, ) _(München; 308 Seiten, 242 Photos; 78 ) _(Mark. )
Anders als sein Dokumentations-Band von 1976, »U-Boot-Krieg«, der nüchtern-distanziert den realen Rohstoff des »Boot«-Romans ausbreitete, ist dies ein leidenschaftliches Herbeibeschwören der verschollenen Soldaten und ihres »Hinsterbens«. Die mit ebenso viel optischer Finesse wie Einfühlung montierten Bilder von einsamen Booten in der gleißenden Weite des Atlantik; von den erstarrten Gesichtern der Männer auf Gefechtsstation, wenn die Wasserbomben-Detonationen näher kommen; von der Verwandlung dieser Gesichter in winzige Punkte, die, aus der Luft aufgenommen, ohne Aussicht auf Rettung im öligen Schwall ihres von Fliegern versenkten Bootes schwimmen - diese Bilder im Wechsel mit Buchheims donnergrollender Prosa bemächtigen sich des lesenden Betrachters mit einer Unmittelbarkeit, _(Auf einem U-Boot-Begleitschiff: ) _(Vorsatz-Photo in Buchheims neuem Buch ) _("Die U-Boot-Fahrer«. )
die der beste Spielfilm, die stärksten Akteure nicht erreichen.
Wie eine Zeitmaschine überspringt das Buch mehr als vierzig Jahre und rückt das Vergangene jäh in bewußtseinserweiternde Nähe. Immer eindrucksvoller führt Buchheim den »Kampf des Gedächtnisses gegen das Vergessen«, zu dem er sich »vergattert« fühlt als, was die U-Boote betrifft, »so ziemlich einziger Augenzeuge, der nicht kaputt, noch nicht gaga, nicht verbohrt und nicht zu feige ist, um die Wahrheit zu sagen«.
Unverdrossen geht er an gegen »dieses gähnend herankriechende, ungeheure, allesverschlingende Vakuum«, das Nichtwissen der Nachwachsenden. Es ermutigt ihn, daß, wie ihm Leserbriefe künden, »viele junge Leute bei mir erfahren, was Krieg und Todesangst bedeuten«. Sein Hauptfeind ist das Vergessen, das sich als verfälschendes Erinnern manifestiert, als Beschönigen und Verklären, als gesäubertes soldatisches Traditionsbewußtsein, das, von Manfred Wörner propagiert, im Volk und in der heutigen Marine von neuem Legenden verbreitet.
»Die U-Boot-Fahrer als eine Truppe von opfermütigen Edelingen, die Kommandanten eine Runde von Artusrittern ohne Fehl und Tadel, die unter einem löwengleichen, genialen Befehlshaber standhaft gegen eine erdrückende Übermacht kämpften« - so, höhnt Buchheim, sehe das nach Veteranenwünschen und Vorbildbedürfnissen zurechtgepinselte »Edelkitschgemälde« aus.
Aber auch die Historiker, sogar die kritischen, sind aus seiner Sicht dem Krieg nicht gewachsen: »Sie abstrahieren das Grauen, und sie kommen mit ihren kargen Mitteln erst recht nicht an das eigentliche Mysterium heran, nämlich diese wahnsinnige, abgründige, perverse Faszination, die der Krieg auch heute noch ausübt, und heute wieder.«
Hier beginnt vermintes Gebiet, und hier wird es für Buchheim erst spannend. Denn woher hat der Krieg den satanischen Zauber, der noble Instinkte in himmelschreiende Bluttaten verkehrt? Woher die dunkle, mahlstromgleiche Anziehungskraft, die das militärisch organisierte Hinmetzeln der Artgenossen zur beständigsten und dabei immer rätselhafteren Menschheits-(genauer: Mannheits-)Institution gemacht hat?
Eine Granate explodiert. Ihre Splitter und Feuerpfeile fetzen einem deutschen Infanteristen in Brust und Bauch. Er wirft die Arme in die Luft. Seine übergroßen Hände greifen ins Leere. Sein Kopf mit dem Stahlhelm wird zurückgerissen, sein Mund schreit.
Es handelt sich um einen schwarzweißen Holzschnitt aus dem Jahr 1933. Thema und Machart erinnern an die Graphik von Käthe Kollwitz und Frans Masereel, auch an die Radierungen, mit denen Otto Dix aus Gera das Grauen des großen Völkerschlachtens von 1914 bis ''18 zur Anschauung brachte. Der Schnitt stammt von dem 15jährigen Lothar-Günther Buchheim; denn der Krieg hat den im Februar 1918 Geborenen schon
damals und von frühester Jugend an bewegt.
Seine Mutter war die eigenwillige Kunstmalerin Charlotte Buchheim, die unverheiratet den Sohn zur Welt brachte und sieben Jahre später den Besitzer einer Eisengießerei ehelichte. Die Mutter nahm ihn mit auf ihre Malausflüge und leitete ihn an beim Zeichnen und Malen mit dem Aquarellpinsel.
Doch es war eine schwierige Jugend. Der Stiefvater ging in der Weltwirtschaftskrise bankrott. Charlotte Buchheim war gezwungen, mit Lothar-Günther und seinem Halbbruder Klaus in ihr Chemnitzer Elternhaus als Bittstellerin zurückzukehren. Da braucht man nicht lange nach den Ursprüngen von Buchheims Unabhängigkeitsdrang und Sparsamkeit zu forschen. Recht einfach, allzu einfach vielleicht, läßt sich aus dieser Familiensituation auch die Schärfe erklären, mit der er gegen konventionelle Vaterfiguren und Autoritäten aufbegehrt, und ebenso die Bewunderung, die er den Rebellen der Malerei und Literatur entgegenbringt, dem Tabubrecher Henry ("Sexus") Miller zum Beispiel, mit dem er späterhin befreundet war.
Vor allem aber forderte die mißliche Lage den Unternehmungsgeist des Knaben Buchheim heraus. Schon als Tertianer zeichnete und schrieb er für die Lokalpresse, um zum Familienunterhalt beizusteuern. Neugier aufs fremde Milieu trieb ihn in den Kraftsportverein »Atlas«, hinter Zirkuskulissen und in Versammlungen der (in Chemnitz besonders starken) Kommunisten. Die selbst miterlebten Saalschlachten und Streikaufmärsche setzte er in dramatische Holz- und Linolschnitte um.
Die Krise, die politischen Wirren, die Niederlage von 1918, die der Quell all der anderen Übel zu sein schien - diese überpersönliche, nationale Passion der Deutschen verschmolz mit den persönlichen Verwundungen. »Ich habe den Krieg 14/18 vom siebten, achten Lebensjahr an via Bücher und Bilder in mich hineingepumpt wie ein Besessener, bin mit einem alten Stahlhelm auf der Fontanelle herumgerannt, und ich war nicht der einzige«, sagt Buchheim. »Das Ungeheuerlichste war passiert, was die Geschichte kannte - ich konnte nicht genug darüber wissen. Ich habe mich mit meiner Phantasie hineinzuversetzen versucht in die Schützengräben unter Trommelfeuer, in die Männer, die den Douaumont stürmten. Ich bin im Geist U-Boot gefahren und schutzsuchend in flandrische Granattrichter gestolpert, die mit fauligem Schlamm und den halbverwesten Überresten von irgendeiner Mutter Sohn gefüllt waren.«
Die Entsetzlichkeit der Zermürbungsschlachten in Flandern, an der Somme und um die »Blutpumpe« Verdun malte er sich mit einer »verrückten Intensität« aus, die es nach 1945 bei der Jugend nicht mehr gab. Noch die schlimmsten Leiden der Frontsoldaten versuchte der junge Buchheim sich zu vergegenwärtigen. Unvergessen blieb ihm ein Infanterist, der einen Granatsplitter in den Bauch bekommen hat und bei vollem Bewußtsein sein Gedärm festhält, damit es ihm durch die klaffende Wunde nicht herausrutscht. Solche Szenen übten, noch während sie ihn schaudern ließen, einen »dunklen Sog« auf ihn aus.
So wurde der Buchheim der frühen Jahre auf seine Art ein Gebannter und Gefangener des noch nicht numerierten »Weltkriegs«, wie die meisten seiner Landsleute auch. 1,8 Millionen deutsche Soldaten, eine unfaßbare Zahl, waren umgekommen. Fast jede Familie hatte einen Sohn, einen Vater verloren, von den Krüppeln und noch gräßlicher Verstümmelten, die der Staat in geschlossenen Spitälern verbarg, zu schweigen.
Doch nur ein Bruchteil der hinterbliebenen Deutschen reagierte darauf mit dem Schwur »Nie wieder Krieg!« Die meisten suchten Zuflucht in Legenden und Phantasmagorien, weil sie die Wahrheit nicht ertragen konnten, die Wahrheit über einen sinnlosen und verlorenen
Krieg, in den sich der Kaiser, seine Generäle und eine patriotisch hochgeputschte Bürgerschaft mit suizidaler Fahrlässigkeit hineingestürzt hatten, und den die Ludendorffs und Hindenburgs mit eisiger Unbarmherzigkeit gegen das eigene Volk bis zur äußersten Erschöpfung weiterführten, obwohl der deutsche Siegesplan schon im September 1914 an der Marne gescheitert war.
Die deutsche Mehrheit wollte nicht sehen, und die Schuldigen wollten davon ablenken, daß die Söhne und Väter mutwillig von verblendeten Befehlshabern umsonst in den Tod geschickt worden waren. Das durfte nicht sein. Und so vollzog sich der makabre kollektive Sinneswandel, der sich auch dem jungen Buchheim in seiner »Kriegsobsession« schon mitteilte, ohne daß er ihn durchschaute: Dem unsinnigen, vergeblichen Opfer der 1,8 Millionen wurde ein Sinn angedichtet dadurch, daß man es zum Wert an sich, zum eigentlichen Zweck des Krieges, zum Selbstzweck erhob.
Gerade der nutzlose, vergebens erlittene Heldentod, gerade der vernunftwidrige Gehorsam, die selbstzerstörerische Tapferkeit wurden nun als höchste Erfüllung eines Manneslebens gefeiert. Statt zu erkennen, daß nur die Torheit der eigenen Führung Deutschland in Gefahr gebracht hatte, deklamierte man inbrünstig: »Deutschland muß leben, und wenn wir sterben müssen!«
Buchheim erinnert sich an alle die Sprüche, mit denen, lange vor Hitler, der Kult blinder Opferbereitschaft zelebriert wurde, zumal an die »besonders extravagante« Zeile des Kriegsdichters Karl Bröger: »Unser blühendstes Leben für deinen dürrsten Baum, Deutschland!« Dabei, sagt er, »überlief es unsereinen dann heiß und kalt, eiskalt sogar, weil einem dieser Märtyrerwahn unterschwellig doch auch sehr befremdlich und krank vorkam«.
Doch bei dem deutschnationalen Ringpfadfinder Lothar-Günther Buchheim, dessen Trupp geschlossen ins Jungvolk übernommen wurde, »wo wir dann weitermachten wie vorher, soweit ich überhaupt Zeit dafür hatte« - bei ihm und seinen Kameraden vermochten auch böse Vorahnungen nichts gegen ihr hypnotisches Fixiertsein auf den Krieg und auf die Opfer, die immer neue Opfer zu fordern schienen: »Gar nicht begeistert, eher fatalistisch, nahm ich innerlich hin, daß die Deutschen unter einem grausigen Wiederholungszwang so oder so wieder Krieg führen würden, und sei es nur, um zu beweisen, daß die neue Generation genauso gut zu sterben versteht wie die Vätergeneration. Besser sogar - nämlich ohne Meuterei und Revolution am Schluß wie 1918.« _____« Die Sonne wird nun allmählich hagebuttenrot und steht » _____« nur noch ein paar Finger breit über dem Horizont. Ohne » _____« Paddelschlag leise in den warmen Abend treibend, schaue » _____« ich ins Himmelsblau, in dem große, weiß aufgetakelte » _____« Wolken ganz still herumliegen, wie die Getreidesegler, » _____« wenn sie in die Roßbreiten kommen. »
Mit seinem Faltboot, Marke »Klepper«, fährt der 20jährige Buchheim im Sommer 1938, er hat den Arbeitsdienst gerade hinter sich, allein die Donau hinab, von Passau bis ins Schwarze Meer. Er zeltet abends am Ufer, besorgt sich Verpflegung bei brummigen Bauern und kichernden Mägden in den Dörfern am Fluß, bummelt durch die großen Städte, zeichnet und notiert: stille Tage unter dem Vulkan.
Über den Donautrip verfaßt er im darauffolgenden Jahr neben seinem Kunststudium in Dresden einen buchlangen Bericht, zugleich geplagt und beflügelt von dem Verdacht, er könne mit seinem hungrigen Auge und seiner quicken Phantasie womöglich noch besser schreiben als zeichnen und malen. Er schickt das Manuskript, schon im Krieg, an den trotz Arisierung noch immer angesehenen S. Fischer Verlag. Lektor Oskar Loerke, ein bewunderter Lyriker und Mann der inneren Emigration, nimmt es auf Anhieb an.
Mit dem naturseligen Titel »Tage und Nächte steigen aus dem Strom« erscheint das Buch 1941, findet Gegenliebe und erlebt mehrere Auflagen. Vor einiger Zeit als Taschenbuch neu publiziert, verblüfft die bilderreiche Vagantenstory ebenso durch das, was sie erzählt und beschreibt, wie durch die Dinge, die sie verschweigt. _(Lothar-Günther Buchheim: »Tage und ) _(Nächte steigen aus dem Strom«. ) _(Goldmann-Taschenbuch; 272 Seiten; 6,80 ) _(Mark. )
Denn sie enthält kein Wort, das auch nur von fern eine Andeutung über die politischen Verhältnisse im Reich und die Nazis macht - kaum, daß Donaudeutsche ihrem Besucher Buchheim zum Abschied ein »Grüßen Sie Deutschland!« zurufen dürfen.
Der stromernde Alleingänger hockt sich zu Zigeunern ans Lagerfeuer: »Ein junger Kerl beginnt zu geigen, während Flammenschein über sein Gesicht irrt und hinter ihm sein schmaler Schatten hin und her zuckt.« Er skizziert Getto-Juden in Belgrad so ungezwungen wie Siebenbürger Sachsen, die bei einem Hochzeitsschmaus fressen und saufen, bis sie sich auf der Diele kugeln. Ohne es zu wissen, intoniert er einen heiteren Abgesang auf den ganzen alten Balkan, den der Krieg für immer zerstören wird.
Der junge Buchheim suchte eine Gegenwelt zu dem feldgrauen, erdbraunen, stahlbehelmten Deutschland. Er fand sie, als Vision zumindest, in den leuchtenden Farben einer Kunst, die die Nazis für »entartet« hielten.
Buchheim dagegen liebte die Bilder der Maler, die sich zwischen 1905 und 1913 in der Künstlergemeinschaft »Brücke« in Dresden zusammentaten - Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff, um nur die Gründer der Gruppe zu erwähnen. Erst hießen sie »die Expressionisten«, dann »die Wilden«; denn sie sprengten so gut wie sämtliche Kunst- und Geschmacksregeln und stellten dem wilhelminischen Pomp ihrer Zeit Werke von einer unverschämten Einfachheit, Offenheit und Kraft entgegen.
In der Sommerhitze glühende Wälder mit zinnoberroten Baumstämmen; Dünen auf einem Sylt, das im Indischen Ozean zu liegen scheint; Frauenakte ohne alle Verklemmung, mit freimütigen Strichen umrissen, die eine neue Sexualität ankündigen und das Spießertum in Rage versetzen; und immer wieder nackt badende Mädchen im Schilf der Moritzburger Seen - Wunsch-Ikonen einer neuen »Lebensfreiheit«, wie es Kirchner im Manifest der »Brücke« nannte.
Einen vollkommeneren Kontrast konnte es nicht geben als den zwischen
den jungen »Wilden« und den erzwungenen, auf Herrschaft und Unterwerfung gegründeten, sado-masochistischen Männerkollektiven des Militärs, von denen Buchheim beim Arbeitsdienst einen »äußerst vitriolischen Vorgeschmack« bekommen hatte. Sein Dresdner Kunstlehrer, Wilhelm Rudolph, machte ihn mit den aus Museen und Galerien längst verbannten Expressionisten vertraut - und wurde aus der Akademie verstoßen, weil er nicht aufhörte, diese »dekadenten« Maler hochzuhalten.
Als der neue Krieg, Fortsetzung und vorläufiger Schluß des deutschen Desasters, begann, gelang es Buchheim durch Umzug nach München und wenig ortsfeste Lebensführung, mehreren Gestellungsbefehlen zu entgehen. »Als es brenzlig wurde«, Herbst 1940, meldete er sich zur Marine, weil die zumindest mit dem Meer zu tun hat, zu dem er sich so hingezogen fühlte.
Seiner Zeichenkunst wegen - er kann sehr detailgetreu zeichnen - wird er Marine-Kriegsberichter mit dem Stift: Die Wehrmachts-Propaganda-Abteilung glaubt, Seegefechte wirkten gezeichnet dramatischer als photographiert; auch könne ein Zeichner die Seehelden wikingerhafter dreinblicken lassen als die Kamera. Doch Buchheim photographiert auf eigene Faust und unzensiert mit der Erklärung, er brauche die Lichtbilder als Vorlage und Erinnerungsstütze für Zeichnungen. Wenn er schon mitfahren sollte, wollte er ein möglichst penibler Augenzeuge sein.
Buchheim mußte, als Marineartillerist - ehe er »Sonderführer« und schließlich Leutnant wurde -, noch vor jedem Maat strammstehen. Im Herbst 1940 erlebte er auf Zerstörern seine ersten Kriegseinsätze - Vorstöße an die englische Südküste und in den Bristolkanal mit nächtlichen Artillerie- und Torpedoangriffen auf britische Schiffe.
Buchheim ist mitgerissen. Bei Rückkehr in den Stützpunkt hockt er sich gleich auf der Pier hin und beschreibt den Einsatz mit der gleichen aufgekratzten Laune wie in dem Donaubuch den Ringelpietz in einer Belgrader Kaschemme. Er läßt die »grüne Leuchtspur in den fahlen Himmel« zischen, »elektrisierende« Kommandos aus Lautsprechern schnarren, sieht Torpedorohre »mit motorischem Gleichmut« schwenken und trompetet selber: »Hussah, die Jagd geht auf!«
So viel Schmiß kommt nur zu gut an. Der Text, nach Berlin geschickt und von dort an die Presse verteilt, wird von zahlreichen Zeitungen, »Völkischer Beobachter« voran, abgedruckt. Auch Goebbels liest ihn, will Buchheim kennenlernen und läßt ihn zu sich befehlen, wird aber unerwartet ins Führerhauptquartier gerufen, als Buchheim schon zagend das Propagandaministerium betritt - drei Kreuze macht der noch heute für dieses »saumäßige Schwein": »Weiß der Henker, in was ich da hätte hineingezogen werden können.«
Buchheim ist kuriert vom schmissigen Zeitungsschreiben. Über die lange, im »Boot«-Roman erzählte Feindfahrt von U 96, an der er Ende 1941 teilnimmt, aber macht er schon im Krieg ein Buch, eine Chronik mit seinen Photos und knappen Texten. Sie erscheint 1943 im Suhrkamp-Verlag mit dem Titel »Jäger im Weltmeer« (wiewohl die Jäger zu diesem Zeitpunkt schon ohne Gnade gejagt und vernichtet werden).
Das Geleitwort ist von Großadmiral Karl Dönitz unterzeichnet. Der junge Autor hat es selbst entworfen und dann, an Chuzpe hat es ihm nie gemangelt, dem Oberbefehlshaber der Kriegsmarine vorgelegt. Zugleich aber - denn so wirr geht es in diesem Krieg bei so vielen guten Deutschen zu - ist Buchheim stolz darauf, daß es ihm sogar in diesem Buch gelungen ist, das Naziregime beharrlich zu ignorieren.
Er bringt den Krieg pur, die soldatischen Tugenden als L''art pour l''art, losgelöst von den Zwecken und Veranstaltern, denen sie dienen: 1943 steht der 25jährige Buchheim in seinem Zwiespalt bereits da, wohin sich der Bundesverteidigungsminister Wörner heute, 1985, mit seiner militärischen Traditionspflege zurückentwickelt hat: Er feiert den Typ des unbedingt gehorsamen Nur-Soldaten, der sein Land nach der Väter Vorbild auch dann tapfer verteidigt, wenn er es damit zugrunde richtet.
Heute weiß es Buchheim besser; heute ist er sicher, daß der Fatalismus der Soldaten auf und unter dem Meer nur noch übertroffen worden ist von der Feigheit ihres Oberbefehlshabers, von der »als Forschheit sich tarnenden, hinter dem besinnungslosen Hinopfern der eigenen Leute sich verbergenden, vor _(Aus Buchheims Sammlung. )
der Wahrheit erbärmlich zurückscheuenden Feigheit des Karl Dönitz«.
Er habe, sagt Buchheim, lange gebraucht und viele »innere Sperren« überwinden müssen, um das so schneidend klar zu sehen und auszusprechen: »Aber wer sich ehrlich mit dem deutschen Verhängnis herumschlägt und nicht bloß alles auf die Nazis abwälzt, für den wird ein Dönitz am Ende wichtiger als Hitler und Himmler.« Denn Dönitz, der »in der Bundesmarine inoffiziell längst wieder als großer Löwe verehrt wird«, müsse als »Paradigma«, als Hauptbeispiel begriffen werden für die »Degeneration des deutschen Soldatentums, die schon vor Hitler begann«.
Wann? »Der Abgrund tat sich schon auf, als die Chefs der kaiserlichen Hochseeflotte am Ende des verlorenen Kriegs 1918 den Irrsinnsplan faßten, mit allen ihren Geschwadern auszulaufen und der britischen Grand Fleet in der Nordsee eine ungeheure Nibelungenschlacht zu liefern. Sie würde zwar am Ausgang des Kriegs nicht die Bohne ändern, sollte aber ''die Ehre der Marine retten''.«
Buchheim schabt mit klobiger Hand über seinen sich sträubenden Bart, packt dann seine Schenkel über den Knien. Er ist aufgeregt, als sähe er sie vor sich: zwei Dutzend kanonengespickte graue Kolosse, die auf der nebelverhangenen Jade vor Anker liegen, die Schlachtkreuzer, die Linienschiffe, der einstige Stolz des Kaiserreichs. Dann der Befehl an alle, Dampf zu machen für den Einsatz.
Aber die Matrosen, die Heizer, die Maate wollen sich nicht in letzter Minute noch abschlachten lassen für die eitlen und verrückten Heldenträume ihrer Offiziere. Sie verweigern den Befehl, sie verhindern das Kamikaze-Unternehmen durch Meuterei.
»Da war sie, die von der Flottenführung selbst provozierte ''Schmach der Marine''«, sagt Buchheim, der Spurensucher im deutschen Unterbewußten. »Diese Schmach, die beim Marineoffizierskorps in eine Kollektivpsychose ausartete, war nur mit Hilfe eines Hitler zu tilgen - denn der versprach ja, die Marxisten und Juden auszurotten, denen Leute wie Dönitz die Schuld an dem Matrosenaufstand zuschoben. Dann würde die Marine von neuem kämpfen, um sich reinzuwaschen.«
Ob dieser Kampf mit Sieg oder Untergang endet, »das war für diese Herren gar nicht das Wichtigste. Nur eine Meuterei sollte es um keinen Preis mehr geben«.
Das Material ist erdrückend, auf das Buchheim sein Urteil und die Dönitz-Passagen seines neuen Buches stützt - es reicht von dem dreibändigen wissenschaftlichen Werk »Die deutsche Seekriegsleitung 1935-45« des Kieler Historikers Michael Salewski bis zu der erst im vergangenen Jahr erschienenen und vielbeachteten Biographie des englischen Marineschriftstellers Peter Padfield, »Dönitz - Des Teufels Admiral«.
Am ersten Tag des zweiten Kriegs mit England, am 3. September 1939, schrieb der Vorgänger von Dönitz als Marine-Oberbefehlshaber, Großadmiral Erich Raeder, ein geheimes Memorandum für seine Akten. Er konstatierte darin, die Kriegsmarine, ungleich schwächer als die kaiserliche Flotte, habe keine Aussicht auf einen Sieg über die Royal Navy. Das einzige, was die »Überwasserstreitkräfte nur zeigen können«, sei, so wörtlich, »daß sie mit Anstand zu sterben und damit die Grundlage für einen späteren Wiederaufbau zu schaffen gewillt sind«.
Karl Dönitz, zu diesem Zeitpunkt »Befehlshaber der U-Boote« und Besitzer von ganzen 22 für den Atlantik tauglichen Booten, kannte die Situation so gut wie Raeder. Aber er erklärte seinem Stab an diesem Tag: _____« Wir kennen unseren Gegner. Wir haben heute die Waffen » _____« und eine Führung, die diesem Gegner begegnen kann. Der » _____« Krieg wird sehr lange dauern, aber wenn jeder seine » _____« Pflicht tut, werden wir ihn gewinnen. »
Erich Raeder hatte nicht den Mut, mit seinen Erkenntnissen vor Hitler hinzutreten, oder sonst einen Versuch zu wagen, das Unheil aufzuhalten.
Karl Dönitz aber »war nicht einmal, wie Raeder, Manns genug, wenigstens vor sich selber einzugestehen, was Sache war«, stellt Buchheim fest. »Vom ersten Kriegstag an hat er, schließlich mit Erfolg, versucht, Goebbels zu übergoebbeln mit hochtönendem Pathos, mit naßforschem, durch nichts begründeten Optimismus, unhaltbaren Versprechungen, Verbrämungen, Verdrehungen.«
Es stimmt, die Quellen belegen es: Dönitz hat auch Hitler ungehemmt belogen, um sich und seine Marine herauszustreichen, um Niederlagen zu bagatellisieren, um den Führer in seinem kindischen Wunderglauben noch zu bestärken. Noch als das Land am Boden lag und Hitler ein Wrack war, Februar 1945, wich Dönitz angstvoll-schroff vor dem Ansinnen Albert Speers zurück, es müsse angesichts der katastrophalen Lage etwas geschehen. Die Ausrede des Großadmirals, Speer zufolge: »Ich habe hier nur die Marine zu vertreten. Alles andere ist nicht meine Sache. Der Führer wird wissen, was er tut.«
»Dilettantisch«, meint Padfield, seien die Methoden gewesen, mit denen Dönitz und seine Stabsoffiziere die Atlantikschlacht gegen das an wissenschaftlich-technischen Ressourcen überreiche Anglo-Amerika aufnahmen. Sie operierten mit Booten, die nur wenige Meilen weit sahen, weil es eine Luftaufklärung nicht gab; mit einem Signalcode, den der Gegner kannte, und Funksendern, die er bald binnen Sekunden exakt einpeilen konnte. »Wunderboote«, von denen Dönitz schwärmte, sollten durch ständige Tauchfahrt den immer perfekteren Ortungsmitteln der anderen Seite entgehen. Sie waren selbst aber blind und völlig untauglich für den Angriff auf Geleitzüge.
»Es ist schon schrecklich genug, wenn Männer für die beste Sache der Welt und geführt vom besten und gewissenhaftesten aller Kommandeure sterben müssen«, sagt Buchheim. »Aber wie wird _(Bei der Verleihung des Eisernen Kreuzes. )
man damit fertig, daß die Blüte der Nation, alle diese Burschen, die man gekannt hat, samt ihren Booten von einem Vabanquespieler auf den grauen Atlantik hinausgeworfen worden sind wie Spielmarken auf einen riesigen Roulettetisch? Damit wird man nicht fertig. Das tröstet die Witwen nicht. Das besänftigt nicht die Überlebenden und taugt nicht zur Traditionspflege - also darf es nicht so gewesen sein.«
Im Frühjahr 1943 bereits, zwei Jahre vor Kriegsende, war die Atlantikschlacht verloren, kamen die U-Boot-Rudel kaum mehr an einen alliierten Geleitzug heran, wurden sie selber reihenweise vernichtet - 43 Boote allein im Mai ''43. Aber Karl Dönitz wagte es nicht, »vor seinem Führer ... den Bankrott seiner Waffe anzumelden«. Im Gegenteil: Er erwarb sich das wachsende Wohlwollen Hitlers durch eben die schneidige Bereitwilligkeit, mit der er diese U-Boot-Fahrer, unter ihnen den eigenen Sohn Peter, ins Verderben schickte.
Und sie nicht allein. Dem Schlachtschiff »Scharnhorst« befahl Dönitz Weihnachten 1943, einen britischen Nordmeer-Geleitzug nach Rußland anzugreifen - trotz der ungewöhnlich couragierten Warnungen seiner Kommandeure: Für sie war klar, daß bei polarer Winterdunkelheit, bei Sturm mit Regen und Schneetreiben keinerlei Erfolgsaussicht bestand, während das Schiff und die 1839 Mann der Besatzung schwersten Risiken ausgesetzt würden.
Mit dem Anfeuerungsspruch »Ich glaube an Euren Angriffsgeist. Heil und Sieg!« hetzte der Großadmiral die »Scharnhorst« nun erst recht hinaus - mitten zwischen die Pranken eines britischen Kreuzerverbandes und des zu spät entdeckten Schlachtschiffs »Duke of York«, eines der modernsten der Royal Navy. Mit radardirigierten Geschützen und Torpedos verwüsteten die Briten das deutsche Schiff, dessen Artillerie-Offiziere vom Gegner durch Nacht und Wetter nur die Mündungsfeuer-Blitze erkennen konnten.
Brennend in der Finsternis versank die »Scharnhorst«. Nur 36 Männer, von fast 2000, fischten die Briten lebend auf.
»Allein der Fall ''Scharnhorst''«, sagt Buchheim, »müßte genügen, um auch dem Verstocktesten die Augen zu öffnen.« Weit gefehlt. Statt dessen bekommt er es mit dem dunkelsten aller Kriegsmysterien zu tun. Er nennt es »Komplizenschaft der Opfer«; es zeigt sich ihm gerade in diesen Wochen wieder in den Schmähungen, mit denen die organisierten Veteranen ihn überschütten. Sogar alte Freunde aus der Kriegszeit haben sich von ihm abgewandt, weil er ihre »Legende Dönitz« so unehrerbietig attackiert.
Denn Karl Dönitz war beliebt bei den Seesoldaten, mit denen er so rücksichtslos verfuhr - je rücksichtsloser, desto beliebter und geachteter. Und wider alles frei verfügbare bessere Wissen verehren die alten wie die nachrückenden jungen Unentwegten ihn wie ein Idol, wie einen charismatischen Guru.
Was macht Männer so demütig, so denkunfähig, so absolut hörig gegenüber denen, die ihnen »fanatisches Sterbenkönnen« (ein Dönitz-Wort) abverlangen. Das ist sie, die »Perversität des Kriegerischen«, auf die Buchheim hinauswill.
Das Gespräch mit ihm umkreist die archaischen Ängste und Triebe, die sich die Männergesellschaft des Militärs zunutze macht und zurechtbiegt zu einem
System aus Herrschaft und Unterwerfung, das den Vorgesetzten zum über Leben und Tod gebietenden Gott des Untergebenen erhebt.
Um die Psychopathologie des Krieges zu verstehen, glaubt Buchheim, müsse man das gedankenlos benutzte Wort »Opfer« ernst nehmen, »zumal das Wort ''Opfergang'', mit dem Dönitz die Todesfahrten seiner Boote verklärte«.
Dann erkenne man die tiefe Verwandtschaft des Krieges mit den Menschenopfern archaischer Völker: »Die Azteken haben für ihren Sonnengott jährlich 20 000 Jünglinge und Jungfrauen umgebracht. Die Priester haben den Todgeweihten die Brust aufgeschnitten, ihnen feierlich das Herz herausgerissen und es dem Götzen offeriert. Die Opfer meldeten sich oft freiwillig, weil man ihnen weismachte, das sei eine besondere Ehre, und sie kämen ins Paradies. Die Azteken glaubten nämlich, diese Opfer seien die Nahrung der Sonne, und ohne sie müsse das Tagesgestirn verlöschen.«
Könnte es, in der dunkelsten Seelentiefe, wirklich einen Zusammenhang geben zwischen diesem Aztekenglauben und dem Glauben der guten Deutschen, das Reich könne nur leben, wenn seine Söhne dafür den Tod erleiden? Wenn sie von den hohen Militärs im Namen von Kaiser und Führer zum Sterben geführt werden, zum Sterben »am Opferhügel«, wie Friedrich Hölderlin das Schlachtfeld hellsichtig genannt hat? Ist die sprachliche Identität von »Schlacht« und »schlachten« ein Zufall? Und wenn nein, erschiene dann ein Mann wie Dönitz nicht wie ein entfesselter Opferpriester, der dem Moloch Hitler seine junge Mannschaft darbringt - wenn auch auf dem Umweg Krieg?
Menschen, Untergebene in tödliche Gefahr hineinzukommandieren, soviel ist sicher, heißt das äußerste Maß an Macht ausüben. Alle anderen Formen der Herrschaft von Menschen über Menschen leiten sich davon her, entstammen dem barbarischen Urgrund von Opfer und Krieg. Und gerade the German way of death, die beiden deutschen Todesorgien in diesem Jahrhundert offenbaren, daß die Kriegsherren den Krieg auch gegen das eigene Volk führten.
1914 sah der kaiserliche Generalstab im Krieg ein willkommenes Mittel, den »Sozialismus«, sprich: die Ausbreitung der Sozialdemokratie, zu stoppen und dem Volk wieder Zucht und Ordnung beizubringen. Das Kriegsziel der Raeder und Dönitz war, daß sich, in Hitlers Worten, »ein November 1918 niemals mehr wiederholen« sollte. Und in einem grausigen Sinne haben sie dieses Ziel ja auch erreicht. Buchheim: »Diese beiden Warlords haben die Marine für ihre Untreue in jenem November schauerlich gezüchtigt. Und die Marine, am Attentat auf Hitler völlig unbeteiligt, ist mit unfaßbarem Stoizismus widerstandslos in den Untergang gefahren.«
Mit Kameramann Jost Vacano, Regisseur Wolfgang Petersen,Schauspieler Jürgen Prochnow.Lothar-Günther Buchheim: »Die U-Boot-Fahrer«. C. Bertelsmann Verlag,München; 308 Seiten, 242 Photos; 78 Mark.Auf einem U-Boot-Begleitschiff: Vorsatz-Photo in Buchheims neuemBuch »Die U-Boot-Fahrer«.Lothar-Günther Buchheim: »Tage und Nächte steigen aus dem Strom«.Goldmann-Taschenbuch; 272 Seiten; 6,80 Mark.Aus Buchheims Sammlung.Bei der Verleihung des Eisernen Kreuzes.