ERZIEHUNG DURCH MASCHINEN?
Für den Einsatz von Lehr-Automaten im Schulunterricht hat Professor Dr. Wolfgang Hochheimer von der Pädagogischen Hochschule Berlin auf einem internationalen Pädagogen -Kongreß plädiert, der sich letzte und vorletzte Woche in Berlin mit dem Thema »Programmierter Unterricht und Lehrmaschinen« befaßte. Hochheimer berief sich in seinem Vortrag, dem nachfolgende Auszüge entnommen sind, auf vorteilhafte Erfahrungen in den Vereinigten Staaten, wo bereits Tausende von Lehrmaschinen zur Unterrichtung von Schülern, Studenten, Soldaten, Technikern und Versicherungsangestellten verwandt werden. Es gibt mehrere
Dutzend verschiedener Typen von Lehrmaschinen, doch
arbeiten sie alle nach einem Prinzip: Der Wissensstoff wird
in viele, leicht überschaubare Bruchstücke zerlegt und in genau abgestimmten Portionen vermittelt. Zudem kontrollieren die Maschinen auch den Lernfortschritt - etwa, indem sie noch der Präsentation des Lehrstoffs auf eine Mattscheibe die Frage projizieren: »Kohlendioxyd ist eine Verbindung von Kohlenstoff und ...« Tippt der Schüler in die Tastatur der Maschine die richtige Antwort ("Sauerstoff"), so erscheint auf der Mattscheibe die nächste Lektion. Als Vorteil der automatisierten Wissensvermittlung werten Padagogen, daß der Schüler das Lerntempo selbst bestimmt und der Lehrer vom Pauk-Pensum befreit wird. Endlich könne, so behaupten Befürworter der Lehrmaschinen, »der Lehrer sich um wahre erzieherische Belange kümmern«.
In zahlreichen Gemütern von Erziehern aller Art behauptet sich ein Komplex von Schulromantik. Er schwebt über der Schulwirklichkeit und verwebt diese in Erwartungsvorstellungen gefühlshaltiger Natur. Nach ihnen »schaltet und waltet« Herr oder Frau Lehrer in Wohnstubenatmosphäre inmitten gemütvoller Kinder.
Aber wenn man die Realität der schulischen Lernsituation bedenkt, ist es unerläßlich, sich vorzustellen, welche ungeheuren Energiemengen von Lehrer wie Schülern - oft bei bestem Willen und größtem Einsatz - verschwendet werden und schließlich pervertieren.
Lehrer reden im Unterricht 40 bist 50mal so viel, wie das dem einzelnen Kinde möglich ist; nach einer statistischen Untersuchung reden Lehrer im Unterricht 78,9 Prozent und sämtliche Kinder der Klasse zusammen 21,1 Prozent aller Worte.
Seit über sechs Jahrzehnten haben unzählige Versuche mit Lernenden aller Art ergeben, daß man erst dadurch richtig »hinein« ins Lernen kommt und erst dann richtig »drin« ist, wenn eine Erfolgsbestätigung neuen, lustbetonten Aktivitätsauftrieb bewirkt. Dazu bedarf es einer ausgewogenen Motivationsverstärkung durch Antwort und Gegenantwort.
Demnach müßte jeder unserer, sagen wir, 40 Schüler seine Antwortschritte äußern und auf jeden Schritt ein »richtig« oder »falsch« erfahren, gegebenenfalls unter Hinweis auf einen neuen Ansatz oder neuen Lösungsweg.
Jedermann weiß, daß ein derart lernorganisches Verfahren in einer üblichen Klassensituation bei 40 Schülern nicht in Gang kommen kann, so sehr der Lehrer sich auch anstrengen mag. Lernwirksame Betreuung, Aufgabe für Aufgabe, Antwort für Antwort, ist im traditionellen Klassenverband unmöglich.
Ebenso grundsätzlich unmöglich ist es, das Lerntempo einer Klassengruppe zu egalisieren. Bald verfehlen sich die gegenseitig anlaufenden Aktivitäten von Lehrer wie Schülern mehr und mehr. Der Lehrverlauf führt zum Leerlauf angeregter Energie. Jede Schulpause und jeder Schulschluß liefern uns Belege für schief gelaufenes psychodynamisches Geschehen.
Vom Schüler her gesehen werden gerade Lernsituationen im engsten Sinne als langweilig, ärgerlich, quälend empfunden. So grundlegend solche elementaren Lernsituationen für das Weiterkommen sind, so wenig reizen sie wegen ihres unproblematischen Gehaltes zu denkenden Stellungnahmen, zu lebendiger Diskussion und angeregtem Interesse. Sie dienen dem Erwerb von Handwerkszeug, mit dem erst später verständig und intelligent umgegangen werden kann. Das elementare Lernen eines jeden Schülers müßte daher besonders gut fundiert werden.
Doch der Lehrer platzt in solchen Situationen besonders leicht, weil sie auch ihm langweilig und allzu elementar erscheinen und er schnell weiterkommen möchte. So redet er sich »den Mund fusselig«, sagt es nun schon »zum dritten Male«, drückt auf das Tempo und schleudert massenhaft Impulse in die Klasse. Immer mehr Schüler kommen dadurch nicht mehr mit. Alpdruck sammelt sich an, wächst immer weiter, wird nach Kräften verdrängt und liegt schließlich als Kloß vor dem Stoff, vor der Stunde, vor dem Lehrer, vor dem Lernen.
Angesichts der drängenden pädagogischen Notlage, des Lehrermangels, der Schülerüberfülle, des ungenügenden Lernfortschrittes, schließlich der kümmerlichen Meisterung zwischenmenschlicher Beziehungen im nationalen wie internationalen Raum, müßten wir von Unterlassungssünden und rückschrittlicher Selbstschädigung sprechen, wenn man sich nicht gründlichst um neue Methoden kümmern würde, die unser
Lehren wie Lernen nachweisbar verbessern sollen. Maschinen und starre Programme in Schule und Menschenerziehung?
Die Erstreaktionen zahlreicher Zeitgenossen auf die Existenz von Lehrmaschinen im Schulraume lassen erkennen, daß es die Konfrontierung von Kindern mit dem Maschinenprinzip ist, die einen Schock auslöst. Indem uns
die Menschenferne der Maschine erschreckt, vergessen wir, daß sie Satelliten des Menschen sind.
Unsere heute üblichen Lehrmaschinen, vor denen viele, ohne sie zu kennen, so sehr erschrecken, sind primitiv altmodisch im Vergleich zu hochentwickelten Elektronenlehrern und lernern. Und doch verbessern schon sie erkennbar zeitsparend und leistungssteigernd schulisches Lernen.
Das gilt von Lernenden aller Art und jeder Altersstufe, vom Kleinkind bis zur Berufsausbildung Erwachsener. Die Forscher Skinner und Holland von der Harvard University zum Beispiel benutzen die Lehrmaschine als »Hilfsdozenten« für Psychologie-Kurse. Und Omar K. Moore von der Yale University hat uns gezeigt, wie mit dem Medium von Lehrmaschinen dreijährige Kleinkinder Maschinenschreiben, Lesen
und elementare Fremdsprachen lernen können (SPIEGEL 27/1963).
Jeder Lernende hat seine eigene Lehrmaschine, die ihn nach einem selbst zu bestimmenden Tempo - er schaltet selbst weiter - informiert und ihm die einzelnen Lernschritte präsentiert. Einfachste Vorrichtungen sind hierfür wirksam. Der Lernvorgang wird dadurch, so paradox das zunächst klingt, individualisiert.
Und die Freude am Lernen wächst wie die Sicherheit der Grundlagen, die man sich in selbstbestimmtem Fortschritt aneignen kann. Das Lernen wird hier wirklich durchgemacht, man lernt durch eigenes Tun. Es behalt zudem einen gewissen Spielcharakter.
Skinner stellte die vielzitierte These auf, es sei kein Grund einsichtig, warum der Schulraum in irgendeiner Weise
weniger mechanisiert sein sollte als
zum Beispiel die Küche. Der auch hier wieder geschockte Pädagoge möge bedenken, daß jeweils maschinelle Hilfen den Oberbegriff zu Küche und Schule bilden. In Wirklichkeit sind Kinder viel maschinenfreudiger, als Erwachsene gern annehmen.
So kann man in den USA beobachten, wie Kinder in für uns unvorstellbarer Selbstverständlichkeit bereits im Vorschulalter die verschiedensten Hilfsmaschinen und -apparate ihres häuslichen Lebenskreises bedienen. Skinner nennt konsequent hierzu »Erziehung den vielleicht wichtigsten Anwendungszweig wissenschaftlicher Technologie«.
Einer der progressivsten Befürworter von Lehrmaschinen, der Wissenschaftler Blyth, nannte 1960 »Lehrmaschinen ein Mittel, angemessener als bisher möglich das demokratische Erziehungsziel zu erreichen«. Das sind große Worte. Wir stellen zu ihrer Unterbauung einige Thesen zusammen die Blyth und andere Forscher zur Charakteristik der Hilfen von Lehrmaschinen für die Pädagogik resümierten: Sie sind gleichbleibend geduldig, gleichbleibend bereit für jedermann vom höher Zivilisierten bis zum Unterentwickelten.
Ihre Elementar-Instruktionen erfordern verhältnismäßig geringe Kosten. Sie machen selbstverständlich den Lehrer nicht etwa überflüssig, sondern sind vielmehr ein Weg, Lehr-Instruktionen zu verwirklichen und deren Wirksamkeit zu vervielfältigen. Sie nehmen dem Lehrer gerade die Hauptplackerei ab und machen ihm den Kopf frei.
Sie helfen zur Entwicklung neuer, wirksamerer Lehrmethoden. Sie können Anschluß halten an den neuesten Wissensstand, der laufend nachprogrammiert werden kann. Sie lassen schließlich dem Lehrer mehr Freizeit für seine persönlichen Bedürfnisse, seine eigentlich unterrichtlich-erzieherische Planung wie Praxis und ermöglichen ein um so gründlicheres Eingehen auf die Persönlichkeit der Schüler. Einer ihrer Befürworter sagte dazu 1957: »Endlich kann der Lehrer sich um wahre erzieherische Belange kümmern!«
Das Lehrer-Kollegium wird dazu um den Typ eines neuen Erziehungsspezialisten erweitert, den »teaching engineer«, einen Lehrer-Ingenieur, der zuständig ist für alle Maschinen, für alle audiovisuellen Hilfsmittel, für das Programmieren und die Elektronenrechner. Dieses nicht gerade »goldene«, aber doch technisch bis in die Schulen durchgedrungene Zeitalter ist nicht mehr nur Zukunftsphantasie.
Eine große Anzahl von Erfolgskontrollen liegt vor. Schüler wie Studenten wie verschiedenste Berufsanwärter ziehen aufgrund ihrer Lernerfahrungen die Lehrmaschine konventionellen Methoden vor. In einem Berufserziehungslehrgang taten das zum Beispiel 90 Prozent der Teilnehmer.
Skinner gibt an, die Lehrmaschine erspare gegenüber konventionellen Methoden (Lehrer, Lehrbuch, Vortrag, Film) die Hälfte an Zeit und Kraftaufwand. Sein Kollege Blyth stellt fest, schon ein Zeitgewinn von 12,5 Prozent bewirke, daß der mittlere Schüler in 14 Jahren das lerne, wofür er jetzt 16 Jahre brauche. Im Mittel hätten sich 15 Minuten an der Lehrmaschine der üblichen Unterrichtsstunde als überlegen erwiesen.
Skinner sagte sogar einmal sehr bedenkenswert: »15 Minuten am Tage an der Lehrmaschine genügen für jedes Fach; es liegt wahrscheinlich an der Unwirksamkeit unserer traditionellen Lehrmethoden, daß wir uns daran gewöhnt haben anzunehmen, Erziehung und Unterricht müßten einen so ungeheuer zeitraubenden Teil der Tageseinteilung eines jungen Menschen in Anspruch nehmen.«
Trägt die Technisierung auch des pädagogischen Raumes, tragen die Methoden von Lehrmaschinen und programmiertem Unterricht zur Dehumanisierung bei? Die Gegenfrage müßte lauten. Tragen unsere jetzigen Methoden zur Humanisierung bei?
Technische Fortentwicklungen sind nicht als solche inhuman. Sie können Fortentwicklungen positiver menschlicher Möglichkeiten sein. Die Lehrmaschinenbewegung würde ihre »Klimax an Dehumanisierung« wohl nur dann erreichen, wenn sie als ausschließliche Methode den gesamten pädagogischen Raum erfüllen wollte. Das hat bisher noch niemand behauptet oder gefordert. Sie ist für uns vielmehr eine Hilfstechnik und noch dazu ohne Explosivstoff.
Lehrmaschine, Schüler: Täglich nur 15 Minuten Unterricht für jedes Fach
Pädagoge Hochheimer
Lehrer platzen besonders leicht