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»Es macht Spaß, DDR-Bürger zu sein«

Der neueröffnete Friedrichstadtpalast in Ost-Berlin *
aus DER SPIEGEL 19/1984

Es war ein Ereignis von großer politischer Bedeutung. Die Spitzen von Staat und Partei und das Diplomatische Corps waren da. Es gab Orden. Die Nationalhymne erklang. Der Bauminister Wolfgang Junker machte dem Staats- und Parteichef Erich Honecker Meldung: Der Beschluß vom X. Parteitag sei befolgt und der Auftrag der Staatsführung erfüllt - das Objekt sei fertiggestellt.

Fernsehen und Zeitungen gaben dem Ereignis Raum wie zuletzt nur dem Ableben von Andropow; es war die wichtigste Nachricht des Tages: Seit dem 27. April 1984, 19 Uhr, verfügt die Deutsche Demokratische Republik über ein Nachtleben. Adresse, in Ost-Berlin: Friedrichstraße 107.

Im 35. Jahr der DDR, rechtzeitig zum Kampftag 1. Mai und zu den Kommunalwahlen fünf Tage später, konnte ein Revuetheater eröffnet werden: der neue Friedrichstadtpalast.

Mit der gewohnt ernsten Miene des beruflichen Klassenkämpfers verlas der Sprecher der »Aktuellen Kamera« die Nachricht, daß das Ballett »erfreulich langbeinig« sei. Das Blatt der ostdeutschen Liberalen, »Der Morgen«, zeigte

seinen Lesern das Photo von einem nackt getanzten Pas de deux und registrierte »erotisches Flair« im Großen Saal. Das SED-Zentralorgan »Neues Deutschland« fand auch den Titel der Nightshow im Kleinen Saal »verheißungsvoll": »Oh, frivol ist mir am Abend.«

Daß die SED plötzlich die Puppen tanzen läßt, daß sie die Töchter Sachsens und Thüringens glamourös und barbrüstig, in schwarzem Leder und weißem Tanga auf die Bühne schickt, gehört erklärtermaßen zur »würdigen Ausgestaltung der Hauptstadt«. Zumindest die Metropole soll vom Kohlgeruch der Spießigkeit befreit werden.

Daß die Partei sich die »neue Wirkungsstätte sozialistischer Unterhaltungskunst« einiges kosten ließ, wird, wie üblich, als »Ausdruck konsequenter Friedenspolitik« und »Beweis großer Fürsorge für das Wohlergehen aller Werktätigen« verbrämt.

Die kesse Show im sündhaft teuren Haus signalisiert aber wohl vor allem, daß im Arbeiter-und-Bauern-Staat zumindest an Unterhaltung künftig kein Mangel herrschen, daß immerhin beim Variete in Wort und Bild mehr Freizügigkeit walten soll.

Zudem birgt der Name des Hauses eine gewisse Verpflichtung. Der Friedrichstadtpalast hat durchaus auch proletarische Tradition.

Der alte Bau, auf 863 Pfählen im Spreesumpf der Friedrichstadt errichtet, war in acht Jahrzehnten kapitalistischer und nationalsozialistischer Regie Schauplatz monetärer und künstlerischer Spekulationen, in ständigem Wechsel von Erfolg und Pleite.

Vom Spekulanten Henry Strousberg 1867 als »1. Berliner Markthalle« gebaut und während des restlichen Jahrhunderts überwiegend als Zirkus genutzt, wurde das Gebäude in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg auch international beachtet, als der Theaterimperator Max Reinhardt es von dem Architekten Hans Poelzig zu einem »Theater der Fünftausend«, dem »Großen Schauspielhaus«, umbauen ließ.

Reinhardt wollte die Bühne als ein »Lebensmittel für die Bedürftigen« sehen, er verzichtete auf differenzierende Ränge und Logen, hatte nur gleichartige Plätze und billige Eintrittspreise.

1200 Rabitzzapfen sorgten rasch für den Spitznamen der Saalkuppel: »Tropfsteinhöhle«. Von außen erschien das burgunderrot verputzte Baumassiv dem Kunstkritiker Karl Scheffler »wie ein drohendes Revolutionsgebilde«.

Das Haus - in dem Eric Charell dann seine berühmten Revuen inszenierte und später die NS-Organisation »Kraft durch Freude« ein »Theater für Volksgenossen« aufzog - wurde vor und nach der Nazizeit auch immer wieder von den Kommunisten genutzt.

1925 steuerte Erwin Piscator zu einem KPD-Parteitag die Agitprop-Revue »Trotz alledem!« bei, hier war die Lenin-Gedenkfeier, die Ausdruckstänzerin Isadora Duncan gestaltete die »Internationale«.

Nach dem Krieg wurde in dem Haus der Vereinigungsparteitag SPD/KPD organisiert, die SED ließ sich mit Festveranstaltungen feiern ("Sie hat uns alles gegeben"), Chöre der Betriebskampfgruppen schmetterten ihr Lied.

Hauptsächlich war es aber das größte Variete Europas, mit 3000 Plätzen - und

schon dafür gab es Orden. Der gesamte Friedrichstadtpalast wurde mit dem »Banner der Arbeit« ausgezeichnet.

Anfang 1980 wurde das Haus wegen Einsturzgefahr geschlossen. Anderthalb Jahre später wurde der Grundstein für den Neubau gelegt.

Der Eröffnung Ende letzten Monats sollen bis 1990 zahlreiche weitere folgen: Erich Honecker verfügte den Wiederaufbau der Friedrichstraße, die er als »attraktivste Geschäftsstraße« der Hauptstadt, als ein »Zentrum großstädtischen Lebens« sehen will - er wünscht sie sich »in neuem Glanz«.

Der alte Glanz der berühmten Straße war freilich schon dahin, bevor sie vom Zweiten Weltkrieg verwüstet und durch die Teilung Berlins zusätzlich verödet wurde. Ihr Niedergang begann schon zu Beginn der zwanziger Jahre, als Zoo und Kurfürstendamm an Zugkraft gewannen; schon 1931 wußte der Reiseschriftsteller Wilhelm Hausenstein nur noch über die »stupiden Greuel der Friedrichstraße« zu berichten.

Der geplante Korso, an dem die vielbenutzten Übergangsstellen Bahnhof Friedrichstraße und Checkpoint Charlie liegen, soll 3000 Wohnungen, 45 Geschäfte, 22 Gaststätten, außerdem Schulen, Kindergärten und ein Hotel bekommen. Den Anfang machte ein bunter _(In der Programmzeitschrift »FF dabei«, ) _(die durch phototechnisches Kontern die ) _(Zahl der Tänzerinnen verdoppelte. )

Glitzerkasten - der neue Friedrichstadtpalast.

Das Bauwerk mißt 110 mal 80 mal 20 Meter und wird vom 32 Meter hohen Bühnenturm überragt - das sind, in der Terminologie der Partei, 195 000 Kubikmeter Fortschritt und Friedenssicherung.

Sein revuehaftes Äußeres aus sandfarbenem Sichtbeton und buntem Glasmosaik, schwankend zwischen Jugendstil und Orient, ist umstritten. Einhellige Anerkennung finden das amphitheatralische Interieur mit 1900 Plätzen und die modernen technischen Installationen.

Die Bühne ist 24 Meter breit und 50 Meter tief, hat Laserkanonen, Filmprojektionen und insgesamt 1000 Scheinwerfer - und als besondere Attraktionen ein Bassin mit fünf Fontänen und eine Eislauffläche von zwölf Meter Durchmesser. Zur Premiere traten ein Wasserballett und eine Eistanzgruppe mit Gaby Seyfert und Christine Errath an.

Vor allem hat die Bühne eine große Treppe, auf der die Girltruppe effektvoll ihre Battements abfeuern und für jeden gut sichtbar Busen und Po entblößen kann.

Für einige Nummern hat der Ausstattungsveteran Wolf Leder die DDR-Bajaderen so rigoros ausgezogen - bis auf sparsame Sado-Maso-Utensilien -, daß sogar ARD-Korrespondent Wolfgang Klein den westdeutschen Fernsehzuschauern die Kostproben nur als »Gewagtes« vermitteln mochte.

Die Ballettmeisterin Gisela Walther hat ihre chorus line freilich gleich auf 34 Girls verstärkt - und die Programmzeitschrift »FF dabei« hat sie vor lauter Begeisterung durch einen phototechnischen Trick sogar noch verdoppelt.

Was das alles gekostet hat und weiterhin kosten wird, ist Staatsgeheimnis. Die Frage westlicher Korrespondenten nach der Bausumme - und damit nach den vermutlich höchsten Kubikmeterpreisen der DDR - erfährt knappe Antwort: »Die Schlußabrechnung liegt noch nicht vor.«

Ob die Gesamtrechnung aufgeht?

Der allerletzte Satz des Conferenciers, gleichsam das Resümee der Revue, lautet: »Es macht Spaß, DDR-Bürger zu sein.«

In der Programmzeitschrift »FF dabei«, die durch phototechnischesKontern die Zahl der Tänzerinnen verdoppelte.

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