SPIEGEL Essay Eugenik der Zukunft
Es ist zum Katholischwerden!« entfuhr es einer engagierten Feministin bei einer Diskussion über die Folgen der Fortpflanzungsmedizin und Humangenetik. Das ist genau der Punkt: In dem Pro und Contra um den achten Tag der kommerziellen Schöpfung, der mit dem Siegeszug der Gentechnologie längst angebrochen ist, werden die eingespielten Gegensätze unscharf, neu gemischt. Es herrscht breite Beunruhigung, nur noch vergleichbar mit dem »atomaren Unbehagen« - dieses Mal sogar bis in das Lager der streng Technikgläubigen hinein.
Doch der Siegeszug vollzieht sich scheinbar jenseits von Ja und Nein. Auch die Verallgemeinerungen, in denen die Befürworter vor dem wachsenden Rechtfertigungsdruck Zuflucht suchen, sind schwer aufzubrechen. Gewiß, der Beruhigungsvergleich mit der seit Jahrhunderten üblichen Käseherstellung und Bierbrauerei ähnelt dem Versuch, den Atomreaktorbau mit der Herstellung von Kneifzangen zu rechtfertigen. Aber was ist wirklich das Neue, Alarmierende an dieser Technologie? Die Erfolge der Fortpflanzungsmedizin und der Humangenetik ermöglichen eine Art »Biopolitik": die gentechnische Gestaltung von Subjektivität und Gesellschaft.
Es ist mehr als eine sprachliche Unkorrektheit, wenn immer davon die Rede ist, daß man die Erbkrankheiten bekämpfen will. Tatsächlich werden auf diese Weise die Erbkranken abgeschafft, also Menschen, die ihr Leben und Erleben gewiß nicht auf dieses eine Merkmal reduziert sehen wollen. Diese nur scheinbar feinsinnige Unterscheidung gilt es genau im Gegenteil herauszustellen, nicht nur, weil in den Werkstätten der Humangenetik das Etikett »erbkrank« in Zukunft einem präventiven Todesurteil gleichkommt und weil hier eine extreme Form von Verdinglichung vorliegt, welche die menschliche Existenz auf ein Krankheitsmerkmal zusammenzieht. Sondern auch, weil in der Differenz dieser zwei Begriffe die Welten liegen, die die Chirurgie in ihrer bisherigen Geschichte von der gentechnologischen Schöpfungschirurgie der Zukunft trennen.
Der Chirurg klassischer Art schnippelt an Beinen, Herzen, Nieren herum, aber immer am lebenden, betäubten menschlichen Körper, während die Genchirurgie es nur noch mit Stoffen, Reagenzgläsern und Formeln zu tun hat, in dieser Abstraktheit aber direkt auf menschliche Subjektivität durchgreift. Naturbeherrschung und Subjektbeherrschung fallen zusammen, werden materiell kurzgeschlossen, operabel.
Die Genetik ist eine Zukunftstechnik, die am materiellen Substrat die Ausdrucksformen des künftigen Lebendigen gestaltet. Wer ganze Generationen verändern kann, hat es also gar nicht mehr mit einem Menschen in Körpergestalt zu tun, sondern dem Anschein nach mit toter Materie, die beliebig, »schmerzfrei«, nach bestimmten Krankheitsmerkmalen ausgewählt und instrumentalisiert werden kann.
Beispielhaft formuliert: Wer Schizophrenie genetisch bekämpfen will, erreicht, wenn er am Ende erfolgreich ist, analog das, was die Eugenikbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts propagiert haben, aber nicht oder nur mit unglaublichen Grausamkeiten verwirklichen konnten: die Abschaffung an Schizophrenie erkrankter Menschen. Die Wirkung ist dieselbe, sie ist sogar ungleich gesteigert und effizienter, der Weg ist ein völlig anderer und die leitenden Vorstellungen meist wohl auch.
Mit Krankheitsetiketten werden im Zuge rasanter Fortschritte der pränatalen Diagnose im Zusammenwirken mit legalisierter Abtreibung menschliche Existenzweisen technisch verfügbar. Wer von »genetischen Erbkrankheiten« redet, betreibt objektiv - auf einem ungleich eleganteren und effektiveren Weg - die Sache der Eugenik.
Der immer noch vorherrschenden Ideologie nach ist die Technik neutral. Erst ihr Einsatz entscheidet, welchen Zwecken - »guten« oder »schlechten« - sie dient. Hat diese Selbstschutzbehauptung der Wissenschaft, dieser Abwehrglaube an die unbefleckte Empfängnis technischer Errungenschaften spätestens seit der Atombombe einiges an Überzeugungskraft verloren, so ist die Gentechnologie ihre ausdrückliche Widerlegung.
Jeder Eingriff in die Erbsubstanz pflanzlichen, tierischen und menschlichen Lebens, der durch genetische Forschungserfolge ermöglicht wird, bedeutet praktische Auswahl, also Streichung von Entwicklungsvarianten des Lebens und Förderung beziehungsweise Verbesserung von anderen Varianten, unter welchen Gesichtspunkten (Gesundheit, Leistungsfähigkeit) auch immer. Das heißt, Aussagen über Zellkernstrukturen tragen die Verwendung in sich, zielen immer - unabhängig von konkreten Zwecken, Kontexten und Absichten - auf Aussonderung, Förderung, Verbesserung, Neukombination, also Gestaltung oder Schaffung von Lebewesen, menschlichen eingeschlossen.
Richtig ist: Huxleys »Schöne neue Welt« steht in keinem politischen Programm. Fast alle arbeiten, forschen und propagieren die neuen Techniken in dem festen Glauben, daß die Rassentheorien und ihr eugenischer Wahn auf immer in den Massengräbern des Naziterrors verschwunden sind. Standen den eugenischen Rassentheorien und ihren politischen Exekutoren nur technische Primitivmittel - also Zwangssterilisation, gesetzliche Eheverbote und Massentötung - zur Verfügung, die an lebendigen Menschen durch Hetzpropaganda, soziale Hysterie und gewalttätige Großbürokratien (von Gesetzgebungsverfahren bis zu Krematoriumsverordnungen) umgesetzt werden mußten, so sind die neuen Gentechnologien ihrer Handlungslogik nach eugenisch.
Für den Augenblick stimmt: Es wird keine politische Eugenik geben, die ein Land in eine Mörderbande zur Verfolgung, Vernichtung Andersrassiger, Andersgläubiger und wissentlicher Dulder verwandelt. Jedenfalls nicht durch die Errungenschaften der Gentechnologie. Es gibt keine Rassentheorien, keine eugenische Bewegung (wie sie zum Beispiel auch in den USA zu Beginn dieses Jahrhunderts mit großem Erfolg in die Gesetzgebung der Einzelstaaten hineingewirkt hat) - allein schon deswegen nicht, weil die neuen Technologien die Praxis der Eugenik ohne Eugenik, ohne Gewaltanwendung ermöglichen: eine Praxis, die begründet liegt in der nun ideologiefrei, ohne Unterdrückungsbürokratie, klinikneutral, im Reagenzglasverkehr möglichen technischen Veränderung der genetischen Ausstattung des Lebens in all seinen Erscheinungsformen.
Die Humangenetik ist das Ergebnis einer bestimmten Auffassung vom Menschen. Der Mensch hat sich im Gang der Wissenschaft als Mechanismus entworfen und entdeckt nun sein Zentrum als Formel, als ein Mischverhältnis von chemischen Substanzen und biologischen Zellstrukturen. Ein Humanum ist dabei nun einmal nicht aufgetaucht, nicht herausgesprungen, beim besten Willen nicht. Also ist seine Verletzung auch nicht möglich.
»Die Eier, die anfangen zu leben, sich zu teilen, sehen immer gleich aus«, sagt Jacques Testart, der vor sechs Jahren als »Vater« des ersten französischen Retortenbabys gefeiert wurde und heute diese Entwicklung eindringlich kritisiert. In der Abstraktheit des Labors, im Umgang mit der chemischen Banalität der Substanzen, die dem Gedanken an etwas Lebendiges so abstrakt gegenüberstehen wie die Formeln, die dieses ausdrücken (oder eben gerade nicht), können deswegen Grenzen zwischen Tod und Leben beliebig im Sinne von erfahrungslos, nominalistisch verschoben werden. Nichts schmerzt, nichts antwortet, nichts wehrt sich. Entsprechend bleibt auch die Rede von Eugenik bedeutungsloses Gewäsch von Steinzeitfanatikern, die einfach noch nicht wissen, daß es das Humanum, für das sie streiten, nur noch als Legende, als widerlegte Arbeitshypothese gibt.
Leben? Eine Feiertagsfloskel, eine notwendige Public-Relations-Erfindung, um hinter den aufgespannten Sichtschirmen der Verantwortung den sich sowieso vollziehenden Forschungsarbeiten ungestörter nachgehen zu können. Genau diese Unsinnlichkeit prädestiniert die gentechnische Einheit von Forschung und Praxis zu Labor-KZs der Zukunft, die mit den bekannten nur noch funktional in ihrer Wirkung vergleichbar sind. Hier kann niemand mehr wissen, was er tut. Also kann sich alles einspielen. Vergessen und Verdrängen ist nicht mehr nötig, da Wissen nie vorhanden war.
Die Eugenik der Zukunft vollzieht sich nicht direkt an Leib und Seele mit Gesetz und Gas. Diese soziale Horrorfrühform einer gesamtgesellschaftlichen Eugenik hat sie historisch abgestreift. Die abstrakte »Reagenzglas-Eugenik« der Zukunft unterläuft die Diskriminierung und Tötung präventiv-technisch. Von Rassentheorien müssen ihre Vertreter nichts wissen, nichts glauben, nichts sagen, da die Technik selbst ebenso stumm wie effektiv die »Verbesserung« des Lebens jenseits von ideologisch-sozialer Hysterie vollzieht.
Wir haben es also nicht mit einer politischen oder sozialen, sondern mit einer »nur noch« technologischen Eugenik zu tun, die sich allerdings mit der Gewalt und Neutralität ihres Vollzuges über ihre Zwecke ausschweigt. Gerade deswegen kann sie im Maßstab und nach den Prinzipien industrieller Massenproduktion auf den leisen Sohlen der Gesundheitsvorsorge und mit dem wissenschaftlichen Segen der Genberatung schon heute ihren Siegeszug antreten.
Die Barbarei kann eintreten, weil sie nicht auf der politischen Bühne und nicht in den bekannten Gewändern der Brutalität auftritt. Ihr Zugang liegt in der Klinik, den Labors und den Fabrikhallen der neuen Bio-Industrien. Ihr Siegeszug beginnt nicht mit Krawallen auf den Straßen, der Verfolgung von Minderheiten oder Volksversammlungen, der Abschaffung von Parlament und Grundgesetz. Sie betritt dieses Mal in weißen Kitteln, mit Forschungsehrgeiz und den guten Absichten der Ärzte ausgestattet, im Willen der Eltern, das »Beste« für ihr Kind zu tun, die Bühne der Weltgeschichte. Gerichte und Parlamente stimmen zu, weil beim Schwenken der Gesundheitsfahnen sowieso alle begeistert applaudieren.
Wer will schon die genetische Bekämpfung von Erbkrankheiten verhindern und damit zum Verfechter fortexistierender Leiden werden? Was ist denn so schlimm daran, wenn Eltern »gesunde« Babys wollen? Wo liegt das Grauen im Bemühen um »ertragreichere« Pflanzen- und Tiersorten?
Die Eugenik, die uns droht, hat alle Kennzeichen einer finsteren Verschwörung abgelegt und das Kostüm von Gesundheit, Produktivität, Gewinnverheißung angelegt. Ihren Schwung erhält sie durch die Dramaturgie der Gefahren, auf die sie antworten soll (Aids, ökologische Zerstörungen) und die Durchsetzungsmacht von Milliarden-Investitionen. Sie betritt als »kommerzielle Eugenik« (Jeremy Rifkin) die Bühne der Weltgeschichte.
Gewiß, es herrscht Freiwilligkeit im Land. Bei uns jedenfalls und jetzt noch. (Was in Ländern und Kulturkreisen mit anderen politischen Systemen, Werten, Ideologien mit dem Siegeszug der Gentechnologie droht, lassen wir hier einmal beiseite.) Doch dieses Wort »Freiwilligkeit« hat den alten, höhnischen Klang. In ihm liegt der Hintersinn eines verlorenen Gesellschaftsbewußtseins. Als gäbe es keine Institutionen, keine Interessen, die sich der »Freiwilligkeit« zu ihrer Durchsetzung zu bedienen wüßten. Als wäre »Freiwilligkeit« ein Ausweg aus der Not der Eltern, entweder einen »Erbfehler«, eine »Behinderung« ihrer Kinder später vor diesen rechtfertigen zu müssen (wie früher Gott in den stummen Gebeten) oder aber durch ihr Ja zum Vollstrecker einer Eugenik zu werden, die oft genug sie als Träger desselben »Mangels« selbst diskriminiert. Die hilflosen Eltern finden sich unter dem Alp der so oder so unverantwortbaren Verantwortung der ihnen technisch zugewachsenen, zugewiesenen mitgöttlichen Schöpferrolle wieder.
Die Entfaltung der humangenetischen Reparaturfähigkeiten und Kreativität bedeutet für die Eltern, daß sie die sozialnormierten Vorstellungen vom »Wunschkind« mit gesteigerter Effektivität nun auch im präembryonalen Stadium durchsetzen können. Was früher die Art der Babynahrung, die Stillzeiten und die elterliche Schulnachhilfe war, kann - wenn alles so weiterläuft wie bisher - in Zukunft auch das genetische Screening und die Genberatung und die operationale Auswahl der »Laufbahn-Gene« werden, die über die Zukunft der Kinder im Konkurrenzkampf der Gesellschaft entscheiden: Gentechnik statt Bildung?
Zukünftige Praktiken embryonaler, präembryonaler »Qualitätskontrolle« lassen sich heute schon bei der Auswahl der Kandidaten und Kandidatinnen für Samenspende und Leihmutterschaft beobachten. »Ein Arzt in Essen«, schreibt Elisabeth Beck-Gernsheim, »der sich in seiner Praxis auf künstliche Befruchtung spezialisiert hat, nennt als Kriterien bei der Auswahl von Samenspendern unter anderem: ,keine abstehenden Ohren oder Hakennasen, mindestens 1,75 Meter groß, keine ausgeflippten Typen, aus geordneten Verhältnissen stammend'. Solche Verfahren sind . . . keineswegs im Sinne von Eugenik und Zuchtwahl gemeint . . . Doch was eigentlich heißt ,unzumutbar' für die ,Klienten' - zum Beispiel ein schwarzer Samenspender für Weiße? Was ist ein ,Defekt'? Zum Beispiel abstehende Ohren?«
Auf diese Weise können auch Vorstellungen vom »lebenswerten« und »lebensunwerten« Leben, die noch im kollektiven Unterbewußtsein schlummern, durch den Duft der technischen Möglichkeiten geweckt werden. Unter dem scheinbar neutralen Etikett »erbbiologischer Mängel« können die Vorurteile von Menschen über Menschen sich nun der genchirurgischen Endlösung bedienen, nicht um das Opfer ihrer unbewältigten Ängste zu »beseitigen« - das wäre zu hart gesagt -, sondern um es auf dem Wege der Perfektionierung des Menschengeschlechts gar nicht erst auf die Welt kommen zu lassen.
Diese Gefahr einer medizinisch impliziten Eugenik wächst mit der Reichweite der medizinischen Diagnostik und Chirurgie sowie den in sie eingelassenen Grauzonen und gesellschaftlichen Vorurteilen. Irritierend unsensibel empfiehlt der Bundesminister der Justiz heute schon in einer amtlichen Informationsschrift, »durch die Erhebung der Familiengeschichte des Samenspenders der Übertragung schwerer Erbleiden vorzubeugen«.
Im übrigen hat Gesundheit ein Abonnement auf Freiwilligkeit, schließt eine Gegenentscheidung fast aus, kann sich auch durch die Kosten, die der Gesellschaft durch den »Luxus« von Erbkranken entstehen, ihrer Durchsetzung so gut wie sicher sein. So wird die Frage nach der Gesundheit zum vorgeburtlichen Todesurteil, das auf die sanfte, stille, klinisch reine Art die »krummen Hölzer«, wie der alte Kant uns Menschen nannte, begradigt.