Fall eines Hammerwerfers
In Stockholms bekannter Tageszeitung »Dagens Nyheter« war im September 1934 folgender Satz zu lesen: »Die Kommunistenreklame hat die Wirkung gehabt, daß mehr entblößte Häupter, als wir je in unserem Stadion gesehen haben, die beiden deutschen Fahnen grüßten -- die schwarzweißrote und die Hakenkreuzfahne.«
Dieser Satz, der die politischen Vorbehalte und ihre Wirkungen beschreibt, wie sie anläßlich des schwedisch-deutschen Leichtathletik-Länderkampfes von 1934 im Stockholmer Olympiastadion auftraten, wird von Per Olov Enquist in einem Roman zitiert, worin jener Satz um vieles schärfer einen erklärenden, deutenden, ja einen die Geschichte motivisch begründenden Wert gewinnt.
Schwedische Arbeitersportler hatten Flugblätter mit der Parole: »Kein Arbeiter zum Nazi-Länderkampf der Bourgeois!« verteilt und Protest-Batlons aufsteigen lassen. Mattias Engnestam, braver Arbeiter und aktiver Sportler, war bei der Ballonaktion beteiligt, aber seine ideologische Überzeugung wurde mit den Ballons in die falsche Richtung geblasen, der Wind hat die Zuversichten fortgeweht, und Engnestam vergaß die Flugblätter, »vergaß den politischen Hintergrund, vergaß Thälmann, vergaß die deutschen Genossen« und wurde ein netter, ehrlicher schwedischer Sportsmann, integriert in ein System der manipulativen Gewalten.
Die Geschichte dieses Mannes erzählt Enquist in seinem Roman »Der Sekundant«, indem er die Rolle des Sohnes Christian Engnestam annimmt. Christian, Zeuge und ständiger Begleiter, mal der schweigende, arbeitende, mal der redende, beschwörende Typ, untersucht und beschreibt dieses Leben eines Vaters, dessen Sportlerkarriere bei einem Leichtathletik-Wettkampf im Jahre 1947 mit einem Skandal endet: Der Vater ist mit einem um 400 Gramm zu leichten Wurfhammer angetreten, und obendrein wird mit diesem Hammer ein Rekord erzielt.
Der Sohn erlebt die tiefste Demütigung des Vaters im Stadion mit, fortan fragt er sich ständig, warum dies so gekommen sei, er fragt: »Weißt du es?«
Enquist hat einen Sportroman geschrieben, wie ich ihn bisher nicht kenne; es ist nicht ein Roman über einen Sportler, auch nicht ein Roman über ein Sportereignis, sondern der Sport selbst in seinen Zusammenhängen mit Politik und Moral, mit Mythen und Parolen ist das Thema.
Er führt vor, wie Einordnung und Gehorsam, wie die Anpassung an festgelegte Abläufe der sportlichen Bewegungsprozesse sich in den Produktionsabläufen der Arbeitswelt wiederholen. Er zeigt die heutige Maskierung dieser Mechanismen: wie Reih und Glied durch die lockere Gruppe, wie die militärische Präzision durch programmierte Verspieltheit ersetzt sind. Er rückt das ganze Phänomen der trainierten Spontaneität ins Blickfeld, diese Ideologie des trainierten Körpers, die auch seinen »Helden« zu Fall bringt.
In Enquists Roman ist der Sport die strukturierende Idee, und zwar der gesellschaftlich manipulierte, der gezielt eingesetzte Sport. Mattias Engnestams Katastrophe ist nicht das »Ergebnis neurosebegünstigter äußerer Umstände beim Erwachsenwerden«, der Autor psychologisiert nicht, sein Roman ist viel eher eine Soziographie. Die Beschreibung des gescheiterten Hammerwerfers ist zugleich der Versuch einer Analyse seiner »Gartenzwergphilosophie«, seiner »Lagerfeuerideologie«, in diesem Sinne auch als ein Essayroman zu lesen.
Am Axiom seines Milieus, daß jeder Mißerfolg ein Zeichen kranker Moral sei, orientiert sich der Angepaßte. Über den Großvater, einen invaliden Steinbrucharbeiter, äußert sich der Vater: »Hätte Großvater seinen Rücken ordentlich aufgebaut und trainiert, hätte das nie zu passieren brauchen«; über den Sohn Christian, einen von Zweifeln geplagten Intellektuellen, sagt er: »Erkältungen und Depressionen sollten wegtrainiert werden.«
So ist Enquists Buch die Geschichte einer zwangsläufigen Entwicklung zum Betrug als Konsequenz der auf Erfolg trainierten Gesellschaft: Der ganze Trimm-dich-Trend, die Standard-Mode, die Jogger-Welle kommen ins Bewußtsein; das reicht bis in die Ideologie der Yoga-Kopfstände, und auch der Massage-Kult und die Sauna-Weltanschauung, die allesamt nicht ohne dieses kopflose Training auskommen, werden assoziiert, ohne daß Enquist speziell darauf zu sprechen käme.
Er beschreibt die Mogelei mit dem manipulierten Wurfhammer als eine anekdotische Paraphrase einer Mogelei mit der manipulierten Weltanschauung. »Die Ergebnisse verbessern!« -- das ist das Zauberwort sowohl kapitalistischer als auch sozialistischer Ideologie. Mattias Engnestam hat, nach seiner Katastrophe, noch als Kloakenarbeiter die Ergebnisse bei der Abwasserrohrreinigung verbessert.
Der Hammerwerfer in Enquists Roman ist nicht der verabscheuungswürdige Mogler, der bösartige Betrüger, der um eigenen Vorteils willen täuscht und blendet. Indem er den leichteren Hammer benutzt, nur, »um die Ergebnisse zu verbessern«, ist er als Produkt einer Gesellschaft, die mit allen ihren Vorteilen und Schwächen auch des Autors Gesellschaft ist, zugleich liebenswert und verdient Verzeihung. Christian, der Sohn und sekundierende Chronist, der inständig nach dem Warum seiner Katastrophe fragt, fällt gleichwohl kein entschiedenes Urteil über den Vater.
Die Wertung bleibt »zweideutig«, wie Enquist sagt, ja, sie bleibt mehrdeutig, sie läßt die widersinnige Situation, den paradoxen Vorgang an jeder Stelle durchscheinen: Zwischen »Humanismus« und »Mogelei«, zwischen »programmatischer Demut« und kleinbürgerlich anarchistischer Schummelei« bewegt sich der negative Held mit putzigen kleinen Schritten; wer als Sportsmann nach absolviertem Versuch auf diese Weise zu seinem Kleiderhaufen zurückgeht, der ist nicht in einen effektiven Faktor des revolutionären Klassenkampfes zu verwandeln.
Indem Enquist fortwährend zurück- und vorwärtsblickt, die gesellschaftlichen Bedingungen der Existenz des Großvaters wie des Enkels im Auge hat, behält sein Roman den aktuellen Bezug. Seine Betrachtungen der west- und ostdeutschen Sportszenerie geben Aufschlüsse über die ideologischen Gegensätze: hier das erfolgreiche Muskelphänomen, dort der integrierte Amateur und beider Umkehrungen, hier die Angst, den Anschluß im internationalen Wettbewerb zu verlieren, dort die peinliche Gier, in »proletarischen Sportarten« (wie Boxen, Fußball, technischen Disziplinen) erfolgreich zu sein.
Immer sichtbar bleibt die Dominanz der kapitalistischen Strukturen im Sport: Rotchinas Anbiederung an die herrschenden Verbände, das brave Verhalten der sozialistischen Länder Osteuropas bei den Athener Europameisterschaften unter der Junta, das ganze Anerkennen der Wettbewerbskonditionen und Konkurrenzbedingungen und der Tatsachenentscheidungen von monokratischen Schiedsrichtern.
Aber Enquist durchkreuzt alle billigen Analogien, indem er die Beziehungen zwischen Sport und Politik ihrer objektiven Kausalitäten entkleidet; erst die subjektive Beanspruchung enthüllt die Unvereinbarkeit von Sport und Politik.
Enquist kündigt die Übereinkünfte, indem er seinen Ich-Erzähler in ärgerliche Widersprüche verwickelt: Er, ein entschiedener Linker, hat »mindestens vier oder fünf wichtige politische Demonstrationen versäumt, nur weil sie zeitlich mit Sportereignissen kollidierten«, und auf der anderen Seite betrachtet er eine politische Demonstration als sportlichen Wettstreit, bewundert ihre sportliche Durchführung, genießt »die Bewegung der roten Tücher« als ästhetische Caprice. Zumindest diese Aussagen sind Identifikationen des Autors mit dem Erzähler.
»Der Sekundant« ist bei aller Ernsthaftigkeit seines Themas auch ein komisches Buch. Seine Geschichte, die im wortwörtlichen Sinne geschichtet ist, führt das Prinzip der Entwicklung in solchen Schichten vor. Alle Augenblicke geht der Erzähler an einen der neuralgischen Punkte zurück, sucht fortwährend die erste kranke Zelle, umkreist unausgesetzt die infizierten Herde, deckt immer wieder die Stellen auf, die schon lange vor dem fatalen Zusammenbruch angegriffen waren; und dieses methodische Hin-und-her-Wenden findet schließlich in der kompletten Schilderung des »Rekordwurfs« ihr komisches Ende.
Christian, der Zeuge und Beobachter, muß sich ironisierend distanzieren, um sich zu retten: »Ich dachte, im Grunde bist du ja doch ein Bourgeois mit all den verdammten Vorbehalten eines Bourgeois und all seinen sophistischen Ironien.«
Ganz am Ende, zusammenfassend, zeigt der Autor den Großvater, den Vater und den Sohn in ihren letzten Umgebungen und läßt ihnen ihren angenommenen, ihren hauteigenen Geruch zukommen: Der Großvater riecht nach saurem Leder, der Vater frisch nach Pferd, der Sohn nach »White Horse« wie alle anderen -- so sind sie zurechtgekommen mit ihrem Leben.
Das Puzzle scheint zusammengesetzt, wie das Puzzle im Märchen von der Schneekönigin, aber es bleibt ein Rest zurück, das Puzzle geht nicht ganz zusammen. Per Olov Enquist sagt: »Wir sind alle gute Sozialisten, und unsere Sprache ist nicht von dieser Welt.«