MEDIZIN Falsche Fährte
Manche kleine Maus hat dem Peter Alexander Hoffnungen gemacht. Zehn Jahre lang gab sich der grauhaarige britische Gelehrte, ein international angesehener Krebsforscher, daraufhin mit den Pelztieren ab. Hunderten der Nager pflanzte er wuchernde Tumorzellen ein. Schließlich lernten seine Mäuse mit dem Krebs zu leben; Dutzende schafften aus eigener Kraft die Genesung. Trotzdem resigniert Alexander jetzt: »Wir sind auf der falschen Fährte. Eine Maus ist kein Mensch.«
Die Erkenntnis, Ende Oktober vorgetragen auf einem Forschertreffen in St. Louis (US-Staat Missouri), beendet eine optimistische Periode: Bislang hatten die meisten Krebsexperten darauf geschworen, daß über kurz oder lang der »letzten Geißel der Menschheit« (so der Heidelberger Krebsprofessor Karl Heinrich Bauer) der Garaus gemacht werden könne -- wenn es nur erst, wie bei den Mäusen, möglich werde, das körpereigene Abwehrsystem zu Hochleistungen anzuregen.
Doch damit wird es wohl, meint Alexander, noch lange Weile haben. Der organisierte Widerstand des menschlichen Körpers gegen ansteckende Krankheiten, fremde Eiweißstoffe oder auch gegen die krebsige Entartung der eigenen Zellen ist ein so kompliziertes Funktionssystem, daß die Forschung bisher tatsächlich nur lückenhafte Erkenntnisse zutage förderte: Sicher ist, daß die eingeborene Abwehrkraft -- die körpereigene »Immunität« -- den Sinn hat, die biologische Individualität zu sichern. Wie das aber im einzelnen bei Mann und Maus funktioniert, ist erst in groben Umrissen erkannt.
Das System arbeitet im dunkeln. Abwehrstoffe -- »Antikörper« -- werden von Milz und Lymphknoten, Knochenmark, der inneren Brustdrüse Thymus und Milliarden verstreut liegenden Bindegewebszellen produziert.
Ein funktionierendes Immunsystem hält in gesunden Tagen nicht nur eingedrungene Mikroben unter Kontrolle, es attackiert auch jene körpereigenen Zellen, die krebsartig zu wuchern beginnen. Solch ein Unglück, so errechneten die Immunforscher, widerfährt jedem Menschen jede Woche -- doch fast stets ohne böse Folgen.
Solange nämlich die örtliche Immunabwehr funktioniert, haben die Krebszellen keine Chance. Sie werden liquidiert. Keiner merkt etwas davon, und selbst mit den feinsten Laborgeräten läßt das Ereignis sich nicht orten.
»Krebs«, so hatte der australische Nobelpreisträger Sir Frank Macfarlane Burnet schon 1965 postuliert, »ist das Versagen der Immunabwehr.« Seither wird weltweit versucht, die Mechanismen dieser Immunabwehr im einzelnen aufzuklären und durch Stärkung der Abwehrtechnik das tödliche Desaster abzuwenden.
Zur Überraschung der Forscher erwies sich, daß eine ganze Palette teilweise seit langem bekannter Substanzen in der Lage ist, der körpereigenen Abwehrkraft aufzuhelfen.
Zu den Stimulantien zählen so unterschiedliche Arzneistoffe wie die Vitamin-A-Säure. das Wurmmittel »Solaskil« und der schon 1921 entwickelte Tuberkulose-Impfstoff »BCG«. Dieses Serum aus lebenden Rindertuberkelbakterien bewirkt, in winzigen Dosen in die Haut gespritzt, beim Menschen am Infektionsort einen harmlosen Tbc-Herd, aktiviert dabei aber gleichzeitig die Abwehrkraft im ganzen Immunsystem.
Der BCG-Schub aktiviert die »Makrophagen«, Wanderzellen mit vielen Fähigkeiten: Sie Orten überall im Körper krebsig wuchernde Zellen und suchen diese zu zerstören. Doch leider schlägt die Behandlung nur unter bestimmten Voraussetzungen zu Buch:
* Die Hauptmasse des Tumors muß vorher durch eine Operation entfernt worden sein.
* Die Abwehr-Stimulantien wirken nur bei bestimmten Krebsarten. Die destruktiven Fähigkeiten der Makrophagen entfalten sich offenbar nicht an jedem Krebsschaden. Restlos überwinden kann -- in manchen Fällen -- auch ein BCG-stimuliertes Immunsystem nur die Krebszellen des blutbildenden Systems (Krankheit: »Leukämie"), des Bindegewebes ("Sarkoni") und, möglicherweise, beim schwarzen Hautkrebs ("malignes Melanom").
Bei Patienten, die an diesen Krebsformen litten, sind längere Überlebenszeiten nach BCG-Behandlung statistisch gesichert -- vorausgesetzt, die Kranken wurden gleichzeitig auf herkömmliche Weise operiert oder mit zellhemmenden Medikamenten ("Zytostatika") behandelt. Immuntherapie allein hat noch keinen Krebskranken gerettet.
Melancholisch wird Professor Alexander, Abteilungsleiter am angesehenen »Chester Beatty Research Institute« in England, der einst so optimistisch auf die körpereigene Abwehr schwor, vor allem durch eine »tragische Ironie«, die ihm und nun weltweit auch den Kollegen erst nach Jahren aufging:
In den vernichtenden Clinch begibt sich das körpereigene Immunsystem vornehmlich mit den Zellen des dichten Krebsherdes. Im Kampf mit den auf den Blut- und Lymphwegen abgesiedelten Tochtergeschwülsten ("Metastasen") bleiben die Makrophagen dagegen offenbar nur selten Sieger.
Die Erfolge, die Alexanders Institut in den letzten Jahren an krebskranken Mäusen erzielte, basierten allesamt auf einer Versuchsanordnung, die auf menschliche Verhältnisse nicht erfolgreich zu übertragen ist: Die Mäuse hatten einen soliden, nicht metastasierenden Krebsherd unterm Fell, den das Immunsystem dann meist erfolgreich angriff.
Doch darauf, sagt der klüger gewordene Forscher nun, kommt es eigentlich gar nicht an: Solch ein Tumor lasse sich auch durch eine »ganz simple« Operation restlos entfernen. Krebskranke Menschen aber sterben meist nicht am -- häufig operablen Primärtumor, »sondern an den weit verstreuten Metastasen«.
Jetzt sucht der britische Forscher nach einem »neuen Tiermodell«.