SICHERHEIT Falten des Fortschritts
Nahezu hundert Millionen Dollar will der US-Automobilkonzern Ford, zweitgrößter Autohersteller der Welt, aufwenden, um seine Modelle spätestens 1971 mit einem, speziell konstruierten Sicherheits-Vorderteil auszurüsten. General Motors, größter aller Autoproduzenten, hält diesen Aufwand für nutzlos.
»Bei einer Kollision«, so erläuterte Ford-Präsident Arjay Miller, »schiebt sich unsere neue Frontpartie nach Art einer Harmonika bis zu 60 Zentimeter zusammen.« Auf diese Weise werde erheblich mehr Aufprallenergie von den Wageninsassen ferngehalten als bei Autos herkömmlicher Bauart.
Flugs ließ daraufhin General Motors ein entsprechendes Versuchsprogramm abrollen. Resultat laut Louis Lundstrom, dem für Sicherheitsforschung zuständigen General-Motors-Direktor: »Ein Durchbruch auf diesem Gebiet kontrollierter Vorderteil-Verformung, der die Statistik der Verkehrsunfall-Verletzungen wesentlich beeinflussen könnte«, sei nicht erkennbar. Ein Ford-Sprecher: »Wir haben unsere Ansichten, sie haben ihre.«
Die Karosserien herkömmlicher Autos schlucken bei einem Zusammenstoß kaum 15 Prozent der Aufprallenergie. Der Rest dieser zerstörerischen Kräfte kehrt sich je nach Geschwindigkeit mehr oder minder heftig gegen die Menschen im Blechgehäuse.
Ausgehend von dieser Erkenntnis, entwickelten fortschrittliche europäische Automobilfabriken wie Daimler -Benz in Stuttgart und die britischen Rover-Werke schon vor Jahren Karosserien, bei denen etwa das Vorderteil durch Aufprall zu Knitterfalten schrumpft, die der Konstrukteur eingeplant hat. Eine derartige Sicherheits-Harmonika verzehrt nach den Testergebnissen der Mercedes-Ingenieure wesentlich mehr Stoßenergie als eine Frontpartie üblicher Bauart.
Mercedes kombinierte den faltfreudigen Wagenbug überdies mit einem besonders stabilen Innenraum, den die Stuttgarter Techniker »Sicherheitszelle« nannten: Er leistet den durch die Harmonika bereits abgeschwächten Aufprallkräften so starken Widerstand, daß die Insassen bei einem Zusammenstoß oder Überschlag laut Daimler-Benz »nicht im Fahrgastraum eingeklemmt werden können«. Bereits im Jahre 1951 ließ sich Daimler-Benz seine »Sicherheits-Karosserie« patentrechtlich schützen (Nummer: DBP 854 157). Das Patent läuft demnächst aus, so daß andere Hersteller - wie nun Ford - von den Mercedes-Ideen profitieren können, ohne Lizenzgebühren zahlen zu müssen.
Die Versuchsingenieure von General Motors ließen Mercedes-Wagen, ähnlich auf Sicherheit konstruierte Rover -Modelle und eigene Fahrzeuge neuester Produktion gegen eine Testmauer fahren. Ihr erstes Resultat kam einer Binsenwahrheit gleich: Bei einem Aufprall mit einer Geschwindigkeit von beispielsweise 50 Stundenkilometer, so fanden sie, sei es unerheblich, ob sich die Frontpartie nach vorgeplantem Verzögerungsschema verfalte - die nicht durch Gurte gesicherten Insassen würden auf jeden Fall gegen die vordere Innenwand stoßen. Tatsächlich hatten die GM-Tester eine entscheidende Voraussetzung des Verformungsschutzes ausgespart: die Sicherheitsgurte.
Auch das zweite Resultat der GM -Tests erwies sich bei näherer Prüfung als anfechtbar. Die Ford-Konkurrenten verkündeten, bei 50 Stundenkilometer Aufprall-Tempo seien »keine wesentlichen Unterschiede« zwischen kontrollierter und unkontrollierter Verformung erkennbar gewesen. Die GM-Tester erwähnten nicht, daß schon bei diesem Tempo, mehr noch bei höheren Geschwindigkeiten, die Aufprallenergie am herkömmlichen Wagen nicht nur die Frontpartie, sondern auch den Innenraum in Mitleidenschaft zieht und verkleinert. Drohende Folge: Trotz der Sicherheitsgurte können Fahrer und Beifahrer durch das Armaturenbrett verletzt werden. Außerdem können durch Verziehen des Karosserieaufbaus erheblich höhere Reparaturkosten entstehen.
Eingeweihte vermuten, daß General Motors mit den ungünstig interpretierten Vergleichstests eine zu erwartende Sicherheitsauflage der US-Regierung torpedieren will. Im geheimen freilich befaßt sich auch General Motors schon mit der Entwicklung verformbarer Frontpartien - für den Fall, daß die Gesetzgeber dennoch eine entsprechende Vorschrift erlassen sollten.
Bisher jedoch gab es noch keine Anzeichen, daß die US-Autoproduzenten das schützende Verformungsschema der europäischen Vorbilder komplett übernehmen wollen. Im Gegensatz zum Mercedes und zum Rover, die mit geplant verformbaren Heckpartien auch gegen Auffahrer gesichert sind, sollen die Hecks der US-Wagen vorerst bleiben, wie sie sind.
Mercedes-Unfalltest
Stabile Mitte