Zur Ausgabe
Artikel 59 / 81

BÜCHER / NEU IN DEUTSCHLAND Fast unmögliches Glück

aus DER SPIEGEL 43/1969

James Baldwin: »Sag mir, wie lange ist der Zug schon fort«. Rowohlt; 432 Seiten; 25 Mark.

»Es bedeutet«, sagte sie ernsthaft wie ein Kind, »daß wir hervorragend sein müssen. Das ist altes, was wir haben ...« -- »Aber man kann nicht einfach beschließen, hervorragend zu sein, Barbara.« -- »Manche Menschen können es. Manche Menschen müssen es.«

Die das erkannt hat, ist die eigenwillige Tochter einer reichen amerikanischen Südstaaten-Familie, und sie sagt es dem Jungen, den sie liebt: einem Harlem-Neger. Beide sind Schauspiel-Eleven am Beginn ihrer Laufbahn. Beide werden hervorragend, und ihre freizügige, großmütige, also schon ideale Liebe wird nur deshalb nicht von der US-Gesellschaft abgewürgt, weil sie hervorragend, prominent sind.

Bei kulminierender Karriere wirft den 39jährigen schwarzen Star ein Herzanfall mitten auf der Bühne um. Er übersteht den Kollaps, aber in Todesnähe und während langer Rekonvaleszenz versucht er, sich übers eigene Ich und Leben erinnernd klarzuwerden.

Bestandsaufnahme und Schwarz-Weiß-Konstellation: James Baldwin, 45, bietet in seinem neuen Roman nichts, was sich originell nennen läßt. Doch die Klischees des konventionellen Erzählens -- und Baldwin glaubt allerdings an die Erzählbarkeit der Existenz -- werden nichtig vor der Vehemenz intelligenter Lebenserfahrung, die dieses Werk bewegt,

Wie Romanheld Leo Proudhammer, der vierfache Außenseiter -- er ist schwarz, bisexuell, Künstler und glaubenslos -, seine Kindheit, sein Knabenalter und seine Karriere schildert, wie er Vater und Mutter, Bruder und Barbara in ihren Eigenheiten und in ihren durch Ressentiments und Repressionen verursachten Entstehungen vorführt, das macht seinen Autor zu Amerikas schwarzem Thomas Wolfe.

Baldwin scheut Gefühl und Emphase nicht, aber er hat sich gehütet, seinen Roman zum antirassistischen Pamphlet zu versimpeln. Was er erreicht hat, ist mehr: Indem er seinem schwarzweißen Liebespaar ein fast unmögliches Ausnahme-Glück zugesteht, läßt er das Normal-Elend des amerikanischen Rassismus in seinem ganzen deprimierenden Ausmaß um so greller erscheinen.

Zur Ausgabe
Artikel 59 / 81
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren