
Kriegsmüdigkeit im Westen Vergesst die Ukraine nicht!


Durch Bombardierung zerstörtes Auto in der Ukraine
Foto: Maxim Dondyuk / DER SPIEGELÜber hundert Tage dauert er nun schon, der Krieg in der Ukraine. Und zumindest online sieht es so aus, als würde sich die Öffentlichkeit nicht mehr so wirklich damit auseinandersetzen können – oder wollen .
Die amerikanische Nachrichtenwebsite »Axios«, welche letzte Woche diese Daten des Online-Monitoring-Dienstes Newswhip veröffentlichte, stellte einen 22-fachen Rückgang der Interaktionen auf Social Media fest, was die Beschäftigung mit diesem Krieg betrifft. Rein quantitativ betrachtet interessierten sich die Menschen online beispielsweise mehr für den Prozess zwischen Amber Heard und Johnny Depp. In Deutschland trugen sicherlich auch das 9-Euro-Ticket, die Angst vor Punks auf Sylt, außerdem Pfingstfeiertage voller Queen-Jubiläum – und überhaupt das gute Wetter! – dazu bei, dass das anfängliche in Blau und Gelb getauchte Momentum der Solidarität mit der Ukraine abklang.
Beim Treffen des Ostseerates am 25. Mai erklärte Außenministerin Annalena Baerbock auf Englisch: »Wir haben einen Moment der Fatigue erreicht.« In der Berichterstattung wurde daraus die Aussage: »Außenministerin warnt vor Kriegsmüdigkeit.« Das ist natürlich ein Quatschsatz, denn kriegsmüde ist jeder Mensch, der bei klarem Verstand ist. Kriegsmüde ist man, bevor ein Krieg überhaupt angefangen hat. Oder wie der Schriftsteller Karl Kraus das in einer seiner Glossen in seiner Kraushaftigkeit auf den Punkt brachte: »Kriegsmüde – das ist das dümmste von allen Worten, die die Zeit hat. Kriegsmüde sein, das heißt müde sein des Mordes, müde des Raubes, müde der Lüge, müde der Dummheit, müde des Hungers, müde der Krankheit, müde des Schmutzes, müde des Chaos. War man je zu all dem frisch und munter?«

Politikerin Baerbock beim Treffen der Außenministerinnen und Außenminister der Mitgliedsstaaten des Ostseerates
Foto:Thomas Trutschel / photothek / IMAGO
Was Baerbock meinte, war natürlich nicht, dass zu befürchten sei, unsere bellizistische Lust am Kampf könnte abebben – nur Soziopathen sind geil auf Krieg –, sondern vielmehr unsere Aufmerksamkeit hinsichtlich des Krieges und dementsprechend das öffentliche Interesse am Geschehen in der Ukraine. Vielleicht sollten wir also nicht von »kriegsmüde«, sondern, wie in der »Financial Times« zu lesen war , von einer »Ukraine Fatigue« sprechen; aber auch das ist ja nur halb richtig.
Die Öffentlichkeit ist ja nicht von der Ukraine müde, was ja noch dreister und zynischer wäre, in Anbetracht ihrer Situation, sondern saturiert von der Berichterstattung. Und das nicht, weil wir ignorant und bequem sind, sondern weil unsere Aufmerksamkeitsressourcen natürlich begrenzt sind und deswegen kognitiv sehr ökonomisch verwaltet werden müssen. Wohin man seine Aufmerksamkeit lenkt und dabei auch sein empfundenes Mitgefühl, funktioniert psychologisch betrachtet analog zur Belastbarkeit eines Muskels, der nicht dauerhaft gespannt bleiben kann und irgendwann übersäuert und zumacht. Auch das Gehirn kann übersäuern, sich verschließen. In der Psychologie heißt das tatsächlich »Mitgefühlsmüdigkeit«, ein Zustand, der sich durch emotionale Erschöpfung auszeichnet und zu einer verminderten Fähigkeit führt, sich in andere Menschen einzufühlen oder Mitleid zu empfinden.
Der Begriff wurde in den Neunzigern geprägt, um ein Phänomen bei Menschen aus Gesundheitsberufen zu beschreiben, insbesondere bei Krankenschwestern, die aufgrund von Arbeitsüberlastung Abstumpfungserfahrungen machten. Und nun, in unserer Gegenwart, erfasst die Mitgefühlsmüdigkeit den Menschen in Anbetracht der immer ohnmächtiger machenden Krisen (und zudem interessieren wir uns auch wieder weniger für das Schicksal des Pflegepersonals, das weiterhin nicht das rosigste ist).

Zerstörte Brücke in der Region Charkiw
Foto: Maxim Dondyuk / DER SPIEGELDie ukrainische freie Journalistin Nataliya Gumenyuk, die für den »Guardian« arbeitet, erklärte bei einer Preisverleihung der Organisation National Endowment for Democracy: »Die Mitgefühlsmüdigkeit hat bereits dazu geführt, dass die Menschen traurige Dinge einfach nicht mehr konsumieren wollen – es ist zu viel, es ist zu schwer.« Und weiter: »Das haben wir schon beim Donbass-Krieg gespürt .«
Je länger der Krieg andauert, desto mehr stumpft der Westen ab. Ein Phänomen, mit dem sich auch die Schriftstellerin Susan Sontag 2003 in »Das Leiden anderer betrachten« beschäftigte, in einem Essay, in dem sie die Grenzen der menschlichen Empathie gegenüber Bildern des Leidens untersucht. Unter einer Flut von Bildern, die uns früher erschütterten und empörten, verlören wir die Fähigkeit, zu reagieren. Das Mitgefühl werde ständig überfordert und erlahme deshalb.
Auf diese unsere Mitgefühlsmüdigkeit setzt auch der Kreml. Während Russland auf dem Schlachtfeld an einer moralischen, physischen und letztlich vor allem militärischen Erschöpfung der Ukraine arbeitet, hofft Putin zudem auf eine Entkräftung des Westens und ein politisches Desinteresse, das die Unterstützungsbereitschaft sinken lässt.
Neben dem militärischen Krieg findet immer noch ein informationeller und politischer statt, und auch dort bemüht sich Putin um voranschreitende Zermürbung, bis zur Betäubung der Öffentlichkeit. Quentin Sommerville, Ukraine-Korrespondent der BBC, bezeichnete dieses Phänomen auch als »Krieg des Vergessens« . Und in der Tat: Mit jedem Tag, den wir diesen Krieg, der gerade seine höchsten Opferzahlen zu verzeichnen hat, aus der medialen und politischen Wahrnehmung rücken lassen, gewinnt Putin den informationellen Verdrängungskrieg, gewinnt er mehr Raum durch unsere Gleichgültigkeit, während uns mit fortschreitender Zeit das Land und seine Bürgerinnen und Bürger politisch wie medial wieder weit weg erscheinen.
Eine 2019 veröffentlichte Metaanalyse, die 41 Studien umfasst, bestätigt, dass mit der Größe der Opfergruppe das Mitgefühl sinkt, die traurige Dynamik bedingt also, dass ausgerechnet jetzt, bei der drastisch steigenden Opferzahl, die Unterstützung noch geringer werden könnte .
Selenskyj und die Ukrainer müssen also nicht nur innerhalb der Ukraine um ihr Überleben kämpfen, sondern mit jedem Tag mehr auch darum, dass ihr Schicksal international nicht verdrängt wird; damit die systematischen Tötungen in Butcha, die Kriegsverbrechen, die Vergewaltigungen, die Attacken auf Krankenhäuser und Geburtskliniken und das Aushungern der Bevölkerung nicht von royalen Jubiläen und überfüllten Zügen übertönt wird. Deshalb erscheint das Handeln unserer Regierung umso beklemmender. Daher kann ich nur hoffen, dass Sie nicht gleich zu Beginn meiner Kolumne das Gehirn abgeschaltet haben. Bitte lassen Sie es nicht übersäuern.