Der eloquente Rhetorikprofessor Walter Jens hat sich nach über 30 Jahren ewiger Freundschaft stummkalt mit dem eloquenten Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki verfeindet.
Ein halbes Leben lang zogen die beiden Literaten aus einem sympathetischen Stoffwechsel ihren Honig. Sie assistierten einander immer mal wieder bei Preisverleihungen: Jens lieferte manche Laudatio, garniert mit griechischen und lateinischen Zitaten. MRR revanchierte sich mit provokanten Freundlichkeiten und einprägsam formulierten Gütesiegeln. Eine Hand wusch die andere, eine Lippe leckte die andere. Als Literaturchef der FAZ druckte MRR unbeirrt die bildungsreichen und ideenarmen Arabesken seines Kumpels.
Seit dem Ende des großen kalten Krieges zwischen den Alliierten der Anti-Hitler-Koalition tobt ein kaltes Krieglein zwischen den Alliierten Reich-Ranicki und Jens. Der antiwestliche Professor Jens torkelt seit der Wiedervereinigung immer tiefer in die östlichen Sümpfe. Im Berliner Akademiestreit hat dieser Praeceptor Germaniae mit protestantischer List und katholischer Tücke durchgesetzt, daß die spitzelnden Hofschranzen des DDR-Regimes ungeprüft übernommen wurden. Jens bündelte all die parteifrommen Kretins großzügig mit den bedeutenden und aufrichtigen Schriftstellern und Künstlern zusammen, die es in der Ost-Berliner Akademie am Robert-Koch-Platz ja auch gab. Nun trennt ein unüberwindbarer eiserner Vorhang die Freunde von einst.
Seit Walter Jens auch noch mit Klaus Höpcke, dem verhaßten Oberzensor der DDR, im Potsdamer Cecilienhof - bei einer Tagung 1990 - abstieg und eine perverse Flitternacht in Josef Stalins Aura verbrachte, ist er für MRR wahrscheinlich noch häßlicher geworden. Vollends zerrüttet ist die intellektuelle Ehe seit dem Golfkrieg. Die amerikanischen Flugzeuge schafften es nicht, Saddam Husseins Herrschaft über den Irak zu brechen, aber sie zerbombten viele dicke Freundschaften in Deutschland.
Diesen privatpolitischen Hintergrund muß kennen, wer begreifen will, warum der Sohn des Walter Jens dieser Tage den übermächtigen Freundfeind seines Vaters mit einer denunziatorischen Fernsehdokumentation über den Schädel schlug. Das welke Kind lieferte im »Kulturweltspiegel« des WDR eine Dokumentation, die nur eins dokumentierte: die Fallstudie eines schwer mißglückten Sohnes. Wir sahen in der Glotze das unfreiwillige Selbstporträt eines Knaben, der offenbar zu feige ist, seinen Vater mit ödipal-sigmundiger Freudigkeit zu erschlagen, und der statt dessen den vom Vater exkommunizierten und beneideten lieben Onkel Marzell anpinkelt.
Skandalös ist nicht, daß der Sohn den Feind des Vaters verleumdet, sondern daß Turnvater Jens es sich gefallen läßt. Er ist zwar nicht der ewige Vormund seines 40jährigen Rotzlichtes, aber er ist für sich selbst verantwortlich, und er weiß ja sonst mit traumwandlerischer Sicherheit, wo die Kamera steht, vor der man öffentliche Reden schwingen kann. Walter Jens könnte so, wie er sich mit großen Worten gegen die Hatz auf IM Margarete alias Christa Wolf wandte, jetzt zumindest ein Wörtchen für seinen ehemaligen Freund absondern. Statt dessen genießt der alte Schwatzprofessor schweigend den Skandal und spielt Gottvater: _____« DU BIST MEIN LIEBER SOHN, AN DEM ICH WOHLGEFALLEN » _____« HABE. »
Weil dies ein politischer Skandal ist, kann ich mich nicht nur privat dazu verhalten. Mögen andere darüber fachsimpeln, ob ein polnischer Konsul im Jahre 1948 in London automatisch ein Spitzel der polnischen Geheimpolizei gewesen sein muß. Der spätere Nobelpreisträger Czeslaw Milosz war zur selben Zeit im diplomatischen Dienst der Polen in Paris tätig, der geniale Aphoristiker Stanislaw Jerzy Lec arbeitete dann als polnischer Diplomat in Wien.
Mögen andere messerscharf mutmaßen, daß MRR sogar ein Mordgehilfe war. Der Sohn des Rhetorikprofessors Jens lieferte nicht einmal den Zipfel eines Beweises. Mag die süffisante Fernsehmoderatorin mit saurem Heilsarmee-Charme und scheinheiligem Inquisitions-Geifer glauben, MRR sei ein Menschenfänger gewesen, der exilierte Landeskinder nach dem Krieg in die polnische Heimat zurücklockte, um sie dort ihren Mördern auszuliefern.
Mögen neidische Literaten an dem fleischlosen Knochen nagen, den irgendein zwielichtiger und abgewrackter Geheimdienstveteran in Warschau dem edlen Enthüllungsjournalisten hinwarf. Es ist bekannt genug, daß der Sohn von Walter Jens sich bisher vor allem als Einbrecher in die Wohnung von Uwe Johnson und als leichenfleddernder Schnüffler einen Namen machte.
Mögen andere aus der längst ausgelaufenen Giftflasche irgendeines davongekommenen polnischen Doppelagenten in Neuseeland saugen, ich werde mich an diesen haltlosen Verdächtigungen nicht beteiligen.
Als MRR polnischer Konsul in London war, wurde der jugoslawische Stalin, Marschall Josip Broz Tito, vom Kominform geächtet. Stalin inszenierte daraufhin eine prophylaktische Verhaftungswelle gegen potentielle »Titoisten« in der kommunistischen Weltbewegung. Sehr bald brannten die Stalinschen Scheiterhaufen in Bulgarien (T. Kostow - 1949) und in Ungarn (Rajk-Prozeß - 1949) und schließlich in der CSSR (Slansky-Prozeß - 1951/52). Schauprozesse, Todesurteile, Tragödien. Auch die DDR spielte ihre schäbige Rolle bei dieser Hexenjagd.
MRR nahm damals kein Blatt vor den Mund. Er wetterte in London keck und leichtsinnig gegen diese blutige Hysterie, und so ist es kein Wunder, daß er bei seiner Rückkehr nach Polen 1949 prompt aus der Partei flog und gleich mal verhaftet wurde.
Als er aus dem Knast kam, schlug er sich als Lektor, Nachworteschreiber und Kritiker durch. Wir haben mit Mißbehagen die Zitate gelesen, mit denen ein Professor Orlowski aus Poznan jetzt die Frankfurter Rundschau beglückte. Stinkende Eier und faule Tomaten von vor 40 Jahren. Des Posener Professors Zitate beweisen, daß MRR, der 1950 aus der Partei ausgeschlossen wurde, noch einige Jahre brauchte, bis die schdanowsche Spieluhr** in seinem Schädel abgelaufen war. Die Normen der marxistischen Widerspiegelungstheorie, wie sie Georg Lukacs prägte, beherrschten das Denken des MRR offenbar länger, als ihm heute lieb ist.
Die Zeitung hätte aber ihren Lesern wenigstens im Vorspann verraten sollen, daß diesem Ordinarius für Germanistik an der Universität Poznan der entscheidende Uni-Karrieresprung unter dem Jaruzelski-Regime gelungen ist. Orlowski wirft MRR geistige Kollaboration mit den stalinistischen Verbrechern der fünfziger Jahre vor, aber er selbst ist heute mit dem letzten Repräsentanten dieser Mörderbande ein Herz und ein Sparkassenbuch. ** Andrej Schdanow, (1896 bis 1948), stalinisti- _(scher Kulturfunktionär. * 1984 mit ) _(Anwalt Sofus Witt (l.) )
1953, als MRR die DDR für das bessere Deutschland hielt, ging ich gegen den Strom der Flüchtlinge nach Osten.
Ich kann mich schlecht mit MRR vergleichen, denn ich war ein halbes Kind, als ich rüber ging.
Aber als 1956 der 20. Parteitag der KPdSU stattfand, als Chruschtschow zum erstenmal den Zipfel vom großen blutigen Tuch hochhob, da reichte mein Schreck noch lange nicht aus für einen radikalen Bruch. Ich brauchte noch fünf Jahre, bis ich wenigstens soviel begriff: Diese sogenannten Genossen sind meine Feinde und diese sogenannten Kommunisten im Grunde zynische Antikommunisten.
Ich will damit zeigen, daß es mühsam war, mit der kommunistischen Ideologie zu brechen, die ja aus den humanen historischen Traditionen der Aufklärung kam. Den Klügeren fiel der Abschied von dieser Utopie, die Arthur Koestler so glänzend einen »glänzenden Irrtum« nannte, noch schwerer als den flotten Plattköpfen. Ich behaupte, daß die innere Wandlung sich oft sogar hinter dem Rücken des eigenen Bewußtseins vollzog. Wir haben alle unsere blinden Flecke.
Alle Welt kennt den berühmten Satz: »Wer mit 20 kein Kommunist war, hat kein Herz. Aber wer mit 40 noch Kommunist ist, der hat keinen Verstand.« Das klingt wie die historische Nutzanwendung einer zeitlosen Weisheit im Prediger Salomo: _____« EIN JEGLICHES HAT SEINE ZEIT / UND AL-LES Vorhaben » _____« unter dem Himmel hat seine Stunde: Geboren werden / » _____« Sterben / Würgen / Heilen / Weinen / Lachen / Klagen / » _____« Tanzen / Verlieren / Behalten / Wegwerffen / . . . hat » _____« seine Zeit . . . »
Dies Zeitmaß gilt auch für geschichtliche Phasen und Epochen. Es gibt Irrtümer und Illusionen, die muß man geradezu haben - zu ihrer Zeit. Kein Mensch entgeht ganz den Borniertheiten seiner geistigen Umwelt.
Darf ein aufrichtiger Mensch heute, nach dem katastrophalen Ende des kommunistischen Tierversuchs, noch den Kommunismus predigen? Ich meine nicht. Wer aber in den ersten zehn Jahren nach dem Ende der Nazi-Herrschaft glaubt, daß in der DDR eine gerechtere Gesellschaft aufgebaut wird, der ist kein Heuchler. Wer sich daran freut, daß dieses östliche Deutschland all die Nazi-Lehrer und Nazi-Richter nicht einfach als Beamte weitermachen ließ, der ist kein korrupter Hund. Wer die historische Wahrheit des 17. Juni 1953 damals nicht tiefer durchschaute als Brecht mit seinem gewitzelten Gedicht über die Regierung, die sich ein neues Volk wählen soll, der ist kein Verbrecher.
Wer damals darauf spekulierte, daß die DDR es mit ihrem Antifaschismus ernst meinte, war kein Spinner. Wer es gut und richtig fand, daß wenigstens in dem von den Russen besetzten Teil die Fabriken und Ländereien der deutschen Kriegsverbrecher enteignet wurden, der war vielleicht ein Schwärmer, aber kein Schwein.
Als weltberühmte Gegner der Hitler-Barbarei aus dem Exil zurückkamen und sich - so wie Bertolt Brecht und Hanns Eisler, John Heartfield und Wolfgang Langhoff, Anna Seghers und Arnold Zweig - in der DDR niederließen, da sah das aus wie ein Beweis, daß in der DDR die vernünftigen Konsequenzen aus der jüngsten deutschen Geschichte gezogen werden.
Reich-Ranicki hat im Grunde nur zwei wirkliche Verbrechen begangen: Er bewies über all die Jahrzehnte nach seiner inneren Entstalinisierung, daß er den meisten seiner Kollegen an Witz und Verve peinlich überlegen ist. Und er hat in Polen die Ausrottung seines jüdischen Volkes überlebt. Die tiefere Infamie der fatalen Fernsehsendung gegen MRR steckte schon im Anfang. Der erinnerte daran, daß Marcel Reich-Ranicki als Jude im Warschauer Ghetto . . .
Mir graut schon, wenn ein Rufmörder in Deutschland damit beginnt, daß er beteuert, kein Antisemit zu sein. Manchmal stelle ich mir vor, wie Deutschland wohl aussähe, wenn man aus unserer Geschichte die tausend Jährchen zwischen 1933 und 1945 einfach rausschneiden könnte. Kein Hitler-Faschismus, kein Holocaust, kein Zweiter Weltkrieg - ein surrealer Tagtraum. Wie sähe die deutsche Literaturlandschaft aus, wenn all diese assimilierten und akkulturierten Juden noch lebten?
Reich-Ranicki rollt frech sein polnisches R durch die Medien, er ist weder auf den deutschen Mund noch auf den polnischen Kopf gefallen, er ist herzerfrischend unbescheiden und dominiert aufreizend jede Gesprächsrunde.
Es läßt sich nicht leugnen: Er hat in den fünfziger Jahren ein paar sozialistisch genormte Phrasen gedroschen. Er hat auch später manches gute Buch verkannt und verrissen und sich dann gelegentlich korrigiert. Er hat manches schwachsinnige Gedicht genossen und sich dann leider nicht korrigiert. Aber meistens war er so unfehlbar wie der Papst. Und vollends Gottes Stimme wurde er zweifellos dann, wenn er den Autor dieses SPIEGEL-Artikels lobte.
Er ist unter all den mediokren Langweilern ein Literat mit Leidenschaft. Ich liebe ihn, anders ist er auch nicht auszuhalten. Es gibt einen Aphorismus von Lec, der nicht auf den geschmähten MRR paßt: »Er hatte ein reines Gewissen, er benutzte es nie.« Y *VITA-KASTEN-1 *ÜBERSCHRIFT:
Wolf Biermann *
wechselte 1953 von seiner Geburtsstadt Hamburg aus in die DDR - zu einer Zeit, als auch der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, der damals in Polen lebte, im sozialistischen Staat das bessere Deutschland erblickte. Biermanns Vater war in Auschwitz, Reich-Ranickis Eltern waren in Treblinka ermordet worden. Anlaß der hier veröffentlichten Polemik des Büchner-Preisträgers Biermann, 57, einer Ehrenerklärung für Reich-Ranicki, 74, ist jener Beitrag im WDR-Fernsehen, der dem Kritiker Mitarbeit beim polnischen Geheimdienst und Linientreue noch nach dem Bruch mit der Partei vorgeworfen hatte - und in den Medien großes Aufsehen erregte (SPIEGEL 23/1994). Tilman Jens, Autor der TV-Recherche, sei wohl, so Reich-Ranicki jüngst in der Weltwoche, »ein sehr unglücklicher Mensch«.
** Andrej Schdanow, (1896 bis 1948), stalinistischerKulturfunktionär. * 1984 mit Anwalt Sofus Witt (l.)