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LITERATUR / DURRELL-ROMAN Faust in der Firma

aus DER SPIEGEL 32/1968

»Aber das war doch ein Schuß, nicht wahr?«

Mit einem Knalleffekt à la Hitchcock und einer Frage, die nicht mehr beantwortet wird, endet das neueste Buch eines Autors, der bisher für subtilere Überraschungen gut wart der kürzlich in England erschienene Roman »Tunc« von Lawrence Durrell, 56*.

Es ist der erste Roman, den der britische, seit 1957 in der Provence lebende Ex-Diplomat, Erzähler, Dramatiker, Reiseschriftsteller, VW-Fahrer und Henry-Miller-Freund seit acht Jahren veröffentlicht hat.

1960 war der letzte Band von Durrells »Alexandria Quartet« erschienen, einem vierteiligen Romanwerk ("Justine«, »Balthazar«, Mountolive«, »Clea"), das der Autor in acht Monaten zu Papier gebracht hatte -- angetrieben auch von Geldnot. Die schillernde Tetralogie trug ihm Weltruhm ein und bewog Gustaf Gründgens, Durrells Dramen »Sappho« und »Actis« in Hamburg uraufzuführen -- ohne sonderlichen Erfolg: Den klassizistischen Stücken fehlte es an Farbe und Feuer.

Lawrence Durrell: Tune. Verlag Faber and Faber, London: 320 Seilen: 25 Shilling. Durrells neuer Roman hingegen greift wieder tief in den bewährten Kulissenfundus des Alexandria-Quartetts, er spielt, glitzerstilig wie die Tetralogie, in den gleichen exotisch-erogenen Zonen. (Schon die ersten Seiten bieten einen vom »Sündenvortrag« einer Patientin aufgereizten, masturbierenden Psychoanalytiker.)

Die Fabel des neuen Buches freilich mutet wie eine Mixtur aus »Faust«, »Frankenstein«, »1984« und allen erprobten Durrell-Drogen an.

»Tunc«-Held Felix Charlock, von Beruf Erfinder, lebt mit der griechischen Prostituierten Iolanthe, die ihre Brüste durch Paraffin-Injektionen strafft und später zum Hollywood-Star avanciert, in Athen und konstruiert ein neuartiges Tonbandgerät. Eine weltumspannende Industriefirma« von Durrell mit dem Zauberer-Namen »Merlin« mythisiert, versichert sich sogleich des neuen Talents.

In Istanbul unterzeichnet Felix einen märchenhaft generösen Anstellungsvertrag und erhält als Zugabe Benedicta, die Tochter des toten Firmengründers« zur Frau. Nach einer Falkenbeize und einem Bad im Waldbrunnen hatten sie sich zu ebener Erde lieben gelernt.

Auch Benedicta ist von Durrell unnachsichtig dämonisiert worden: Am rechten Fuß sitzt ihr ein überzähliger kleiner Zeh, »Teufelstitte« genannt. Hexenhaft unstet und von sinistren Depressionen getrieben, verschwindet Benedicta gleich nach der Verlobung und taucht erst wieder in London auf, wo Felix mittlerweile als einer der »Merlin-Direktoren damit beschäftigt ist, künstliche Diamanten und einen Super-Computer namens »Abel« zu erfinden. Diese Maschine kann allein aus der Sprechweise eines Menschen dessen ganze Vergangenheit und Zukunft rekonstruieren und vorhersagen -- eine Fähigkeit, die Durrell mit der sprachlichen Mehrdeutigkeit des lateinischen Titelworts »tune« (dann, damals, darauf) apostrophiert.

Das zunächst glückliche Eheleben endet abrupt, als Benedicta entdeckt, daß sie schwanger ist. »Es wird alles ändern, alles«, teilt sie Felix mit und verreist wieder einmal.

Felix aber fühlt sich zunehmend unbehaglicher in dem massivgoldenen Firmenkäfig, in dem ihm jeder Wunsch erfüllt wird, bis er wunschlos unglücklich ist. Von der Anonymität des Unternehmens frustriert, verlangt der faustische Erfinder immer dringlicher den mephistophelischen Firmenchef Julian zu Gesicht zu bekommen. Doch obwohl Julian fast täglich per Brief und Telephon in Felixens Berufs- und Eheleben eingreift, bleibt er für den Angestellten unsichtbar -- personalisiertes Symbol für die Unpersönlichkeit der technisch-industriellen Zivilisation.

Als Felix seine neueste Erfindung -- das beste Waschmittel, das es je gab -- profitlos zum Wohle der Menschheit stiften und sich damit auch als freier Mensch erweisen will, legt der Firmenchef telephonisch sein Veto ein. Mit einem Knaben nieder- und aus Zürich zurückgekommen, schlägt Benedicta dem stumm leidenden Felix die Trennung vor, amputiert sich mit einem Küchenmesser die Hexenzehe, zerschießt nackt ihr Spiegelbild und verreist abermals.

Umdüstert werkelt Felix fortan nur noch an »Abel«. Julian jedoch beauftragt Benedicta, der Firma einen neuen Erfinder zuzuführen -- »einen jungen deutschen Baron und Botaniker, der in türkischen Gewässern mit seiner Jacht unterwegs ist und eine Blume gefunden hat, die uns, wie er sagt, die vollkommene Kontrolle über alle Insekten verschaffen kann ...«

Da fällt, plötzlich und unvermutet, der Schluß-Schuß. Wen er trifft, bleibt ungewiß. Ob Felix, der Unglückliche, Selbstmord begangen oder ihn nur vorgetäuscht hat, um der Firma zu entkommen, läßt sich mit Sicherheit nicht feststellen. »Wir müssen damit rechnen«, vermutete »Times Literary Supplement« in seiner »Tunc«-Besprechung, »daß wir im nächsten Buch einem wiederbelebten Felix begegnen werden.

Ein nächstes Buch nämlich hat Durrell schon angekündigt. »Tunc«, so ließ er wissen, sei nur »die erste Tragfläche eines Doppeldecker-Romans«, und die zweite werde den -- wiederum lateinischen -- Titel »Numquam« (niemals) tragen.

So geheimnisvoll der Schluß von »Tunc«, so klar schien den meisten Kritikern das »Tunc«-Thema. Durrells Alexandria-Quartett, schrieb »Time«, habe hauptsächlich »vom Kampf eines Künstlers um Freiheit innerhalb seiner Kultur« gehandelt -- »Tunc« handele »von demselben Kampf eines Wissenschaftlers«.

»Free« (frei), so heißt es einmal in Lawrence Durrells neuem Roman, »ist das einzige four-letter-word. das wirklich zählt.«

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