Samira El Ouassil

Feiern in Zeiten von Corona Vermissen ist okay

Samira El Ouassil
Eine Kolumne von Samira El Ouassil
Nein, es gibt kein Recht auf Party. Aber sehr wohl ein Recht auf Sehnsucht, Traurigkeit und Nostalgie.
Darf man feiern vermissen?

Darf man feiern vermissen?

Foto: Deagreez / Getty Images/iStockphoto

So viele vermissen das Feiern so krass, sagte neulich eine junge Frau in einer Straßenumfrage des ZDF Heute Journals. "Ich war jetzt seit März nicht mehr feiern, und ich war vorher dreimal die Woche irgendwo, und das ist schon traurig, ich brauch das nämlich eigentlich, ich bin darauf angewiesen. Darauf zu verzichten, geht mir schon echt ab."

Ich fühle es ihr nach. Mir auch.

Ein Ausschnitt des Beitrags verbreitete sich in Windeseile auf Twitter. Inzwischen wurde er gelöscht. Die Reaktionen auf ihr Lamento waren bemerkenswert, um nicht zu sagen irritierend. Erst wurde die Befragte dafür heftig kritisiert; das Video mit Häme und Wut geteilt. Das "krasse Vermissen" von so etwas Hedonistischem wie Feiern wurde angesichts einer globalen und lebensbedrohlichen Pandemie als First World Problem trivialisiert, man empörte sich über eine millennialhafte Wohlstandsegozentrik, in der bei steigenden Infektionszahlen das größte Problem die ausbleibende Party sein soll. Dann wurde sie verteidigt - denn viele kennen dieses schwerblütige Gefühl, das sie beschreibt, das immer zäher am Brustkorb zieht, je länger die Pandemie anhält: das Vermissen.

Diese dünnhäutige Diskussion über die vermeintlich zu geringe Belastbarkeit der jungen Frau sagt viel über unsere eigene mittlerweile geringe Belastbarkeit aus: Indem wir zu jemandem rüberrufen "Reiß dich zusammen, wir haben es alle nicht leicht", sagen wir vor allem "Reiß dich zusammen, ich tu es auch, was fällt dir ein, dir mehr Empfindsamkeit rauszunehmen, als ich mir selbst gestatten würde oder gestatten kann?" Dass wir so schnell jeden Anflug von emotionaler Überforderung als egoistisches Gehenlassen werten, macht uns im Grunde zu den gnadenlos Quengeligen: Wir sind wehleidig, wenn wir jemandem Wehleidigkeit vorwerfen, weil wir die Wehleidigkeit nicht ertragen wollen. Souveräner wäre es, weniger unerbittlich zu sein, aber so können wir uns durch Projektion prima an der Selbstlüge festhalten, dass wir uns vergleichsweise stark und gefestigt zu Corona verhalten.

Keine Resilienz-Paraden, bitte

Je länger die Pandemie jedoch andauert, desto unterschiedlicher gehen wir mit ihr um - weil wir unterschiedliche Reserven an Geduld, Widerstandsfähigkeit und Belastbarkeit haben, die sich je nach Lebensumständen unterschiedlich schnell aufbrauchen. Bei einer alleinerziehenden Mutter, einem Pfleger oder darstellenden KünstlerInnen vielleicht schneller. Digitale Eremiten in sicheren ökonomischen Umständen tun sich vermutlich leichter. Wir sollten deshalb nicht in Resilienzparaden verfallen und vergleichen, wie gut oder schlecht sich jemand mit einer neuen und belastenden Situation arrangiert.

Zu den unterschiedlichen Ausprägungen unseres Durchhaltevermögens kommen unterschiedliche Geschwindigkeiten der Krisenverarbeitung. Unsere Geduldsfäden sind mal stärker, mal schwächer gespannt, mal dünner, mal dicker.

Resilienz, also wie widerstandsfähig jemand sich in Anbetracht herausfordernder Situation erweist, gilt als besonders bewundernswerte Eigenschaft. Widerständen sollte man am besten ohne eine einzige Träne trotzen, am besten mit gleichmütiger Gefasstheit als ausgestellte mentale Stärke. Warum sind wir bei dargestellter Verunsicherung derart ungnädig? Entweder weil man sich selbst zum Maßstab der Zurückhaltung macht und es ungerecht findet, stärker sein zu müssen, während sich andere herausnehmen, es nicht zu sein. Oder weil man unterstellt, dass schon allein die Sehnsucht nach einem früheren Ist-Zustand die Sinnhaftigkeit der Maßnahmen rund um den aktuellen Zustand infrage stellt. Dabei kann man sehr wohl eine alte Wirklichkeit vermissen, ohne eine neue provisorische abzulehnen. Im Gegenteil: Man nimmt sie an, in der Hoffnung, dass irgendwann alles wieder gut wird.

Was nutzt das Jammern schon?

Möglicherweise erinnert ein Moment vermeintlicher Schwäche auch an die eigene Ohnmacht. Klar, Beschwerden über einen Ist-Zustand verstärken das Gefühl der Ausweglosigkeit, weshalb einige mit wütender Verdrängung reagieren. Was nutzt das Jammern schon, wenn man gerade eh nichts ändern kann? Was soll also dieses alberne Vermissen? Ist es nicht vor allem zur Schau gestellte emotionale Egozentrik?

Jetzt darf man Wehmut nicht mit Wehleidigkeit verwechseln (die an sich auch nicht so schlimm ist). Denn die Ironie ist: Sein Vermissen zu artikulieren, macht den Vermissenden resilienter.

Autor und Psychologe Mihály Csíkszentmihályi hat die Idee der psychischen Entropie etabliert, als Gegensatz zu einem Zustand, in dem alles fließt, es einen sogenannten Flow gibt: Psychische Entropie bezeichnet den verminderten psychischen Zustand, in den wir eintreten, wenn Angst oder Frustration gegen unsere Ziele zu wirken scheinen. Wenn wir nicht wissen, worauf wir unsere Erwartungen und Hoffnungen lenken können, auf welches Ziel wir durchs Zusammenreißen hinarbeiten, verfallen wir in die Entropie und sind weniger resilient. Um durchzuhalten, brauchen wir also etwas, worauf wir uns freuen können - und vor allem freuen dürfen.

Es gibt kein Recht auf Party, aber sehr wohl ein Recht aufs Vermissen, auf Sehnsucht, Traurigkeit und Nostalgie.

Denn diese Dialektik, diese Ambivalenz-Erfahrung ist in der Mechanik des Vermissens klugerweise schon mit verankert: Man vermisst eben, WEIL man akzeptiert hat, dass das, was man gerne hätte, gerade nicht da ist, nicht da sein kann. Die Traurigkeit entsteht aus der Erkenntnis der Unvereinbarkeit von Vernunft, Sehnsucht und Akzeptanz darüber, dass etwas Geliebtes abwesend sein muss.

Wer traurig ist, hat wirklich verstanden und verinnerlicht, dass dies ein kontaktloser Winter werden wird.

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