AUTOMOBILE Feindliche Säcke
Ein scharfer Knall, und binnen 30 Millisekunden bläht sich der Balg hilfreich vor dem Antlitz des Bedrohten - so wirkt der Luftsack, der sich bei einem Aufprall automatisch im Innenraum aufplustert. Kaum eine Apparatur für die Sicherheit im Automobil hat je so flammende Kontroversen erregt wie das vor 50 Jahren erfundene, aber erst seit acht Jahren verfügbare Prallsack-Schutzsystem.
»Eine der großen Streitfragen des Jahrhunderts«, prophezeite schon vor 20 Jahren der »Christian Science Monitor«. In den USA, dem größten Automarkt der Welt, nahm das Gehader zwischen Beamten, Politikern und Vertretern der Motorlobby derart hitzige Formen an, daß der Sicherheits-Kreuzzügler Ralph Nader und der frühere US-Verkehrsminister William Coleman einander als »Heuchler« beschimpften. Das Auto-Magazin »Car and Driver« verunglimpfte Nader als »Sicherheits-Nazi«.
In Deutschland, wo sich Daimler-Benz als Luftsackpionier Meriten verschafft hat, stand der potentielle Nutzen des Prallsacks bisher außer Frage. Nun aber gab es Krach: VW-Tochter Audi, nach Daimler, Porsche und BMW der vierte Hersteller, der einen Blähbalg zur Welt brachte, fing an zu zetern.
Audi offeriert, zunächst nur in seinem V-8-Luxusmodell, ein Prallsacksystem, das die Ingolstädter zum Ärger der Mercedes-Benz-Luftsäckler »eine in der Welt konkurrenzlose Sicherheitstechnik« nannten. Die Formulierung war mit Bedacht gewählt, Rachsucht hatte die Feder geführt. Gerade die Mercedes-Manager, so erläuterte Audi-Entwicklungschef Jürgen Stockmar, »haben uns schlechtgemacht«.
Wer den auf Testveranstaltungen und Sicherheitsseminaren ausgetragenen Streit verstehen will, muß sich kurz die Historie dieses Sicherheitszubehörs ins Gedächtnis rufen.
Als vor fast 20 Jahren die Luftsackdiskussion begann, gab noch Henry Ford, dem der Sack zu teuer war, die Richtung an. »Ungeheurer Blödsinn«, lautete sein Urteil. Es entspann sich in Amerika ein Verwirrspiel zwischen Ämtern, Verbraucherorganisationen, Industrie-Tycoons und Gerichten. Unter vier verschiedenen US-Präsidenten wurden Luftsackdirektiven verfügt, außer Kraft gesetzt, wieder verfügt und wieder verworfen. 1981 sah es so aus, als hätte Ronald Reagan dem Plusterbeutel endgültig die Luft abgelassen.
Im gleichen Jahr brachte, nach nahezu zwei Jahrzehnten Entwicklungsarbeit, die Daimler-Benz AG als erster Autohersteller den Luftsack als Sonderausrüstung auf den Markt (Aufpreis derzeit: 2451 Mark). Der »Airbag«, wie das aus der Lenkradnabe hervorschnellende Stickstoffpolster auch in Deutschland genannt wird, bietet die größten Chancen, daß ein Autofahrer sein Hirn auch nach einem kapitalen Unfall noch uneingeschränkt nutzen kann.
Mittlerweile ist gewiß, daß der Prallsack alle taktischen Widerstandslinien durchbrochen hat. Nach der für den US-Markt nunmehr gültigen Sicherheitsvorschrift müssen von Juli 1989 an alle Autos eines neuen Modelljahrgangs mit »passiv wirkenden Rückhalte-Vorrichtungen« ausgerüstet sein, wozu allerdings auch Automatikgurte gehören. Die großen US-Hersteller, allen voran Chrysler, bevorzugen nun ebenfalls den Prallsack. Größere Mengen an Airbags aber hat bisher allein Mercedes-Benz abgesetzt, wo demnächst eine halbe Million Luftsäcke zu feiern sein werden.
Der Streit zwischen Audi und Mercedes-Benz entsprang letztlich einem Sicherheitsdetail, das nicht unmittelbar mit dem Prallsack zu tun hat: Es geht um »Procon-ten«, ein originelles Zubehör, das Audi vor drei Jahren eingeführt hat. Das System besteht aus einem nach dem Flaschenzugprinzip um den Motorblock geschlungenen, mit dem Lenkrad und den Sicherheitsgurten verbundenen Drahtseil - nach einem Aufprall, bei dem der Motorblock in Richtung der Fahrgastzelle verschoben wird, soll es das Lenkrad nach vorn zerren, um Kopfverletzungen zu vermeiden, und zugleich die Gurte straffen.
Alsbald machten, mehr oder minder öffentlich, Daimler-Techniker ihre Witzchen über Audis »Drahtseilakt«. Wenigstens die Hälfte aller Stadt-Unfälle, so beispielsweise eines ihrer Argumente, verliefen nicht genau frontal, sondern seitlich versetzt. Dabei würde der angestrebte Zieheffekt gar nicht in Gang kommen, weil sich der Motor überhaupt nicht oder nur schräg verschiebe.
Audi-Chef Ferdinand Piech, auf die Stuttgart-Untertürkheimer Konkurrenten ohnehin nie gut zu sprechen ("Die Daimler-Aktie gehört in den Keller"), nutzte nun gerade die neue Kombination aus Luftsack und Drahtseil zu einem propagandistischen Hieb gegen die Spötter aus dem Schwabenland. Ungerührt verkündete Audi zur Präsentation des ersten Ingolstädter Prallsacks (Aufpreis: 2562 Mark), »bei einer energiereichen Frontalkollision« drohe »die Gefahr, daß das Lenkrad in den Innenraum hineingeschoben« werde. Der gefüllte Luftsack könne dadurch »aus einer ursprünglichen Schutzlage in eine vermindert wirksame Position« gelangen. So sei »trotz Airbag eine Interaktion zwischen Kopf und Lenkradkranz nicht auszuschließen«.
Nächste verbale Reaktion: Daimler-Benz beteuerte, im Analysenkatalog von Mercedes-Unfällen mit Airbag-Autos finde sich kein einziger, bei dem der Prallsack seine »Schutzfunktion innerhalb der technischen Möglichkeiten nicht voll erfüllt« habe.
Audi setzte eins drauf: »Der große 80-Liter-Luftsack des Audi-Systems« übertreffe die Konkurrenten um 20 Liter und »steigert die Schutzwirkung weiter«. Darauf ein Daimler-Manager: »Na und? Die haben jedenfalls lange genug Zeit gehabt, von uns zu lernen.«
Audi meint, einstweilen letztes Wort, inzwischen hätten wohl auch die Spötter von Audis Drahtseil was gelernt: »Daimler-Benz und BMW entwickeln was Eigenes, aber wir haben noch nicht spitz, was es ist.« #