PARIS Ferner liefen
Das Kleid hat keine Ärmel und am Saum Porzellanperlen, die an die Knöchel der Trägerin klappern. Dior -Designer Marc Bohan hat es - und ein Dutzend ähnlicher Roben - für Damen erdacht, die zu ganz bestimmter Zeit an ganz bestimmten Orten wellen: in Sommernächten auf Terrassen.
Wenn Kouka, schon zum sechstenmal Starmannequin der Saison, in Marc Bohans Terrassenkleid, verstreute Blumen auf weißem Leinen, durch die mausgrauen Dior-Salons schlendert, umbrandet sie Applaus.
Doch die Gefühlsaufwallung des Publikums gilt nicht dem, was Kouka am Leibe, sondern einem Klümpchen, das sie auf der ausgestreckten Hand trägt: dem winzigen Yorkshire-Terrier »Monita«.
Koukas Minimalhund, mit grüner Chiffon-Schleife und grünem Chiffon -Cape verziert, heimste mehr Beifall ein als irgendein Kleid auf einer der unzähligen Pariser Modeschauen in der vorletzten Woche. Filmstar Sophia Loren versuchte vergebens, Monita seiner Herrin abzukaufen.
Die auf das Hündchen gekommene Haute Couture 1963 hatte eine vorwiegend
schlechte Presse. Englische und amerikanische Modereporterinnen dünkte das Defilee der rund tausend Roben »eine Ansammlung von lauter 'Ferner liefen' », die diesjährigen Produkte der Pariser Hoch-Schneiderei erschienen ihnen »seltsam flach«. In der »New York Herald Tribune« mokierte sich Expertin Eugenia Sheppard über das »Minimum an Novitäten«. Nur die nationalstolzen französischen und die Paris-frohen deutschen Pressedamen beurteilten die neuen Kreationen in der Mehrzahl milder.
Was indes die kritischen Beobachterinnen bekümmert, mag ihren Leserinnen durchaus genehm sein: Sie können die Kleider, die sie letzten Sommer kauften, ohne modische Skrupel weiter abtragen. Der Rocksaum, Dollpunkt jeder saisonalen Neuerung, bleibt, wo er ist.
Couturier Cardin, Saumsenker der vorigen Saison, kehrte zum nur knapp bedeckten Knie zurück, das Haus Dior und Yves Saint-Laurent entblößten es halb. Jacken gibt es weit oder gerade, kurz, hüft- oder knielang. Röcke schräg oder zylindereng, Mäntel ballondick oder schmal. Resümierte der »Daily Telegraph« das Pariser Allerlei: »Wenn eine Linie nicht ankommt, gibt es mindestens noch drei andere.«
Hinterrücks freilich nahmen fast also Couturiers einen bisher - vielleicht zu Recht - unbetonten femininen Körperteil aufs Korn: Sie verbreiterten die Schultern. So zieht Dior die Armlöcher fast bis zum Hals hinauf und füllt den freien Raum mit kugelförmigen Ärmelkeulen. »Wie werden«, sorgte sich »Paris-presse«, »die Frauen auf der Straße damit aussehen?«
Wegen der Dekolletes wurden solche Sorgen nicht laut. Mit den für 1963 offerierten Ausschnitten auf die Straße zu gehen, dürfte überhaupt unmöglich sein: Sie legen, hufeisenförmig oder spitz, die Brust zu drei Vierteln und den Rücken bis zur Taille total bloß. Nach Meinung des königlichen Mode -Instituts in London sind sie »günstig für junge, hübsche Frauen mit exhibitionistischen Neigungen«.
Die »Daily Mail« verkündete ihren Leserinnen: »Offen gestanden, auf Ihren BH werden Sie wohl verzichten müssen.« Das Blatt sorgte sich um den Broterwerb der Unterzeug-Fabrikanten: »Oh, niemand ist ihr Freund.« In der Tat ist es bisher nicht gelungen, Stützvorrichtungen zu fabrizieren, die ihr gutes Werk absolut unsichtbar tun.
Verlegen um große Neuigkeiten, hielt sich der internationale Reporterinnen -Schwarm schließlich an die kleinen Extravaganzen dieser Saison: künstlliche Zöpfe, bis zur Taille lang; Pullover aus Leopardenfell; Nerzmäntel ohne Ärmel; Schuhe aus Pinguin- und Seelachshaut, maßgenäht, das Paar zu 500 Mark.
Die Bilanz der diesjährigen Pariser Mode hatte der Gesellschaftskolumnist der »New York Herald Tribune«, John Crosby, schon nach den ersten Kollektionen richtig geschätzt. Crosby auf die Frage, wie die Haute Couture diesmal ihre Geheimnisse so besonders gut habe hüten können: »Sie hatte keine.«
»Daily Mail«-Skizze Dekollete 1963
Wenn eine Linie nicht ankommt...
... gibt es noch drei andere: Mannequin Kouka (1.), Hund, Bewunderer*
* Sophia Loren, Marc Bohan.