SCHALLPLATTEN / NEU IN DEUTSCHLAND Feuerstein der Liebe
Georg Friedrich Händel: »Passion nach Barthold Hinrich Brockes«. Maria Stader, Edda Moser, Paul Esswood, Ernst Haefliger. Harry H. Jenning, Theo Adam, Jakob Stämpfli, Regensburger Domchor, Schola Cantorum Basiliensis, Dirigent: August Wenzinger; Deutsche Grammophon Archiv SKI 958/61; 58 Mark.
In einer »ungemein eng geschriebenen Partitur« schickte Händel 1717 eine Passionsmusik an seinen ehemaligen Arbeitsplatz Hamburg. Die Konjunktur war günstig. Da die Gänsemarkt-Oper in der Karwoche schloß, wichen die opernfreudigen Stadtrepublikaner auf musikalische Dramatisierungen der Leidensgeschichte Christi aus. Der dafür meistvertonte Text stammt von dem Hamburger Ratsherrn Barthold Hinrich Brockes. Seine Klitterung aus Evangelistenbericht, Kirchenlied, barock-opernhaften Szenen sowie frommer Betrachtung durch die »Tochter Zion« und vier »Gläubige Seelen« galt auch in pietistischen Zirkeln der Hansestadt als »erlaubte Belustigung« während der opernlosen Zeit. Johann Sebastian Bach hat Teile daraus für seine Johannes-Passion verwandt, Händel den ganzen Brockes, als einen Bestseller seiner Zeit, komponiert.
Damit hat er den Wiederentdeckern des Werkes zweieinhalb Jahrhunderte später Schwierigkeiten bereitet. Die sonst pingelig aufs Original bedachte Archiv-Produktion mußte den ärgsten Barock-Schwulst durch Umdichtung tilgen. Was an Auswüchsen bleibt,
* Bei der Aufnahme der Brockes-Passton.
bietet noch immer Anlaß zu Belustigung: »Ich seh' an einen Stein gebunden 1 den Eckstein, der ein Feuerstein 1 der ew'gen Liebe scheint zu sein, 1 -- weil er die Glut im Busen trägt ...«
Für die Wiederbelebung der Leidensgeschichte haben die Archiv-Produzenten die auf Alte Musik auf alten Instrumenten eingeübte Schola Cantorum Basiliensis des gesuchten Musikrestaurators August Wenzinger mobilisiert. Die Schweizer-Garde begleitet erste Solisten: Maria Stader setzt für die Lamentationen der Tochter Zion ihren Flötensopran ein, der sich vom »Exsultate, jubilate«-Typus aber nur selten löst. Ihr macht Edda Moser, Schon-nicht-mehr-Geheimtip der Eingeweihten, den Rang einer Ersten Dame dieser Aufführung als Maria mit Erfolg streitig. In der opernhaft expressiven Jesus-Partie weckt Theo Adam fatale Assoziationen an seinen Wotan von Bayreuth. Mit leicht nasalierendem Evangelisten-Tenor trifft Ernst Haefliger am ehesten den Händel-Stil.
Ein Kuriosum: der »Altus« des Engländers Paul Esswood, der nach barockmusikalischer Aufführungspraxis mit falsettierendern Hochtenor singt und so den Judas zur Karikatur macht. Nicht nur deshalb ist diese »erste Gesamtaufnahme auf dem Weltmarkt« mit ihrer tautologisch anmutenden Kopplung von deutscher Gründlichkeit und eidgenössischer Uhrmacher-Akkuratesse im florierenden Ostergeschäft mit Passions-Schallplatten ein Unikum. Aus der Asche eines Vierteljahrtausends -- ein Phönix zuviel.