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Film: Unmenschliches verlorenes Paradies

»Der Holzschuhbaum«, das bei den Filmfestspielen 1978 in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnete Bauernepos des italienischen Regisseurs Ermanno Olmi, läuft in deutschen Kinos an. Außer in synchronisierter Fassung wird das vom italienischen Fernsehen produzierte Werk hier auch als Original mit deutschen Untertiteln gezeigt. Schon für Italiener hatte es wegen des kaum verständlichen Dialekts untertitelt werden müssen.
aus DER SPIEGEL 14/1979

Aus den USA wurde kürzlich ein weiterer Sieg der Vernunft über die Natur gemeldet. Agrarwissenschaftlern war es gelungen, eine viereckige Tomate mit einer besonders festen Schale zu züchten. Das in bezug auf Verpackung und Transporteignung optimale Gemüse hat nur einen Nachteil: Es ist absolut geschmacklos.

In Ermanno Olmis Film schleicht sich nachts ein alter Bauer in den Hühnerstall, sammelt dort den Mist ein und düngt damit entgegen allen üblichen Methoden seine Tomatensetzlinge, die er schon zur Winterszeit in einen Beetkasten gesät hat. Im Sommer ist er als erster mit seinen Tomaten auf dem Markt. Zwischen beiden Zuchterfolgen liegen 80 Jahre.

Der Pachtbauer Battisti im Film wird mit Frau und Kindern durch den Feudalherrn vom Hof gejagt, weil er eine kleine Weide gefällt hat, um daraus für seinen Sohn einen neuen Holzschuh zu schnitzen. Heute läßt sich die auf einen Bruchteil ihrer früheren Zahl gesundgeschrumpfte Bauernschaft vom Staat subventionieren, und der Begriff der Leibeigenschaft existiert nur noch in den Geschichtsbüchern. Auch dazwischen liegen nur 80 Jahre.

Olmis dreistündiger Film über das Leben lombardischer Bauern kurz vor der Jahrhundertwende verhält sich zu Bertoluccis grandios-barockem Bauernepos »1900« wie Geschichtsschreibung zur Oper. Mit ethnographischer Akribie rekonstruiert Olmi eine historische Lebens- und Arbeitsweise und läßt in seiner gänzlich undramatischen Schilderung von Herrschaftsverhältnissen und Bodenständigkeit das Janusgesicht des Fortschritts aufscheinen, ohne jedoch polemisch Position zu beziehen. »Der Holzschuhbaum« schweigt weder in Landkommunen-Nostalgie noch nährt er den Mythos von jenem spatenschwingenden Bauern, der Schulter an Schulter mit dem Arbeiter Staat macht.

Das Gefühl des Verlustes, das man bei jedem Bild dieses ergreifenden Filmes empfindet, bleibt immer zwiespältig. Wenn die vier Bauernfamilien, die gemeinsam das Gut bewirtschaften, abends in der Scheune zusammenhocken, singen und sich Geschichten erzählen, dann geht davon eine Wärme aus, die dem modernen Sozialgebilde, das sich gerne Familie nennt, fehlt. Geburt und Tod vollziehen sich wie der Wechsel der Jahreszeiten, und der Dorftrottel bekommt ganz selbstverständlich seine Portion Polenta ab.

Aber zu Battistis Vaterstolz auf einen Neugeborenen kommt auch die Sorge, ein weiteres Maul stopfen zu müssen. Und über alle herrscht der Gutsbesitzer, der ein Drittel der Ernte für sich beansprucht.

Anders als Bertoluccis rebellische Bauern nehmen Olmis Gestalten ihre Abhängigkeit noch als naturgegeben und gottgewollt hin, ohne Wut und Zweifel gegenüber ihrem Herrn in Schloß und Kirche. Gott wirkt zwar Wunder wie an jener kranken Kuh Battistis, die der Veterinär schon auf gegeben hat und die dadurch gesund wird, daß sie Weihwasser trinkt. Aber er schleudert auch keine Blitze, als der Verwalter des Feudalherrn eben jene Kuh samt ihrem Kalb abholt, nachdem Battisti vom Hof vertrieben wurde.

Stumm, traurig, aber nicht empört sehen die anderen Bauern Battistis Vertreibung zu. Erst ein bei ihnen nicht vorhandenes Bewußtsein von Unterdrückung könnte so etwas ic Solidarität entwickeln.

Daß diese hierarchisch-starre, unmenschliche und zugleich archaisch-humane Welt bedroht und zum Untergang verurteilt Ist, läßt Olmi an der Hochzeitsreise eines jungen Paares vom Gut ahnen. Sie führt -- eines der schönsten Bilder des Films -- mit einem Kahn den Fluß hinab nach Mailand. Dort herrscht Aufruhr. Berittene Polizei jagt streikende Arbeiter durch die Straßen.

Die fremdartige Hektik in den Straßenschluchten setzt Olmi in einen allzu landseligen Kontrast zu dem bedächtigen Lebensrhythmus der Bauern. Da gibt er jene unerschütterliche Beobachterhaltung auf, die seinen Film sonst wie ein Dokument erscheinen läßt.

Dieser Eindruck entsteht vor allem dadurch, daß Olmi ausschließlich Laien einsetzt. Bauern aus der Gegend von Bergamo spielen den Alltag ihrer Großeltern, sprechen in ihrem rauhen, gutturalen Dialekt. Und nur -- Hierarchie in Sprache verwandelt bei dem in allen Lebenslagen hilfreichen Ave Maria oder Pater noster bedienen sie sich des Hochitalienischen.

Olmi bezeichnet die Bauernkultur, aus der auch seine. Vorfahren stammen, als verlorenes Paradies. Man soll sich da nicht täuschen lassen. Der heute übliche Umgang mit Relikten dieser Kultur beschränkt sieh darauf, Speichenräder und Pferdehalfter in die Kellerbar zu hängen oder ungarische Bauernröcke zum letzten Modeschrei zu deklarieren.

»Der Holzschuhbaum« ist auch eine sanfte, aber unnachsichtige Korrektur an jener Boutiquenmentalität, in der allgemein mit bäuerlichem Erbe verfahren wird. Die Welt, die er zeigt, ist weder ein Paradies noch eine Hölle, der wir entronnen sind. An ihr können wir abschätzen, wohin uns der Fortschritt in 80 Jahren gebracht hat.

Wolfgang Limmer
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