
Szene aus »Amsterdam«: Vor lauter Star-Auftritten verliert man den Überblick
Foto: Merie Weismiller Wallace / DisneyNeu im Kino Geselliges Grauen und Star-Power in Amsterdam
Ab 3. November im Kino:
»Amsterdam«
Das Kinogenre, das diesen Herbst bestimmt, hat noch keinen Namen – taufen wir es deshalb probehalber: Buffetfilm. Der Buffetfilm zeichnet sich dadurch aus, dass er so viele große und idealerweise oscarnominierte Stars zu bieten hat, dass für jeden Fan etwas dabei ist. Das Erfolgsrezept ist nicht neu, die Häufung aber schon – nach Corona gilt Starpower in Hollywood offenbar als noch wichtigerer Faktor, um das Kinopublikum zurückzugewinnen.
Einige Beispiele: Diese Woche ist »See How They Run« mit Saoirse Ronan, Sam Rockwell und Adrien Brody angelaufen. Im November folgt »Glass Onion: A Knives Out Mystery« mit Daniel Craig, Serena Williams und Edward Norton, und in der kommenden Woche startet »Amsterdam« mit Christian Bale, Margot Robbie, John David Washington und Pop-Superstar Taylor Swift. Regie geführt bei Letzterem hat David O. Russell (»American Hustle«), dessen Filme regelmäßig ein großes Staraufgebot haben.
»Amsterdam« ist inspiriert von einer – realen – faschistischen Verschwörung, durch die 1933 US-Präsident Franklin D. Roosevelt gestürzt werden sollte. Sie wurde als »Wall Street Putsch« bekannt. Bei Russells Bearbeitung wird daraus aber eine extrem kompliziert verschraubte Räuberpistole, bei der man ständig den Überblick verliert, wer oder was relevant für die Geschichte ist – auch wegen der vielen Star-Kurzauftritte. Am Ende hat man das Gefühl, dass sich Russell von seinem eigenen Buffet zu viel auf den Teller geschaufelt hat. Hoffentlich kommen im Winter die Verdauungsschnapsfilme. Hannah Pilarczyk
»Amsterdam«, USA 2022. Drehbuch und Regie: David O. Russell. Mit Christian Bale, Margot Robbie, John David Washington, Taylor Swift. 134 Minuten.

Szene aus »Hui Buh und das Hexenschloss«: Spaß am Spuk
Foto:Warner Bros.
»Hui Buh und das Hexenschloss«
Es ist ein vergnügliches Wiedersehen, das der Regisseur Sebastian Niemann hier mit ein paar ulkigen Bekannten inszeniert. Michel Bully Herbig als animiertes Gespenst und Christoph Maria Herbst als mit wallendem Haarschopf gesegneter König Julius waren schon in Niemanns Film »Hui Buh – Das Schlossgespenst« aus dem Jahr 2006, den sich über zwei Millionen Menschen im Kino ansahen, ein munter frotzelndes Traumpaar. »Du bist ein hundsmiserables Gespenst, aber mein bester Freund«, sagt Julius nun im neuen Film in einem Moment der Rührung zu seinem Gefährten. Mit ihm zusammen hat er diesmal einer angeblich schon 99 Jahre alten, äußerlich aber noch sehr jungen Hexe namens Ophelia (gespielt von der Kinderdarstellerin Nelly Hoffmann) beizustehen. Das Mädchen behauptet, sie sei Hui Buhs Nichte. Die kleine Ophelia wird von einer sehr bösen alten Hexe (hübsch gruselig hergerichtet: Charlotte Schwab) gejagt, die schon ihre Mutter entführt hat.
Es ist ein prachtvoll ausgestattetes Abenteuermärchen, in dem die tollkühnen Helden mit ihrem Schützling in einer fliegenden Kiste in die Ferne reisen – und natürlich böse Rückschläge erleben müssen. Die Sprachwitze sind herrlich schlicht in diesem Kinderfilm, dem man ansieht, dass die Mitspielerinnen und Mitspieler stets mit Spaß bei der Arbeit sind. Was hier auf der Leinwand präsentiert wird, ist, wie es einmal im Film heißt, »das geselligste Grauen«. Wolfgang Höbel
»Hui Buh und das Hexenschloss«. Deutschland 2022. Regie: Sebastian Niemann. Buch: Niemann, Dirk Ahner. Mit Nelly Hoffmann, Michael Bully Herbig, Christoph Maria Herbst. 88 Minuten.

Unwirklicher Einbruch der Gewalt: Darsteller Claude Heinrich, Adina Vetter in »Wir sind dann wohl die Angehörigen«
Foto:Pandora Film
»Wir sind dann wohl die Angehörigen«
Die Entführung eines Menschen durch ein paar noch so ekelhafte Verbrecher ist eine erstaunlich undramatische Angelegenheit – wenn die Leserinnen oder Leser, die Kinozuschauerinnen oder der Zuschauer wissen, dass die Angelegenheit gut ausgeht und das Entführungsopfer überleben wird. Der Autor Johannes Scheerer hat die Erzählaufgabe, ein Schwerverbrechen mit glücklichem Ausgang zu schildern, in seinem Buch »Wir sind dann wohl die Angehörigen« eindringlich und anrührend gemeistert. Scheerer ist der Sohn des Hamburger Sozialwissenschaftlers und Konzernerben Jan Philipp Reemtsma, der im März 1996 entführt wurde und nach 33 Tagen Gefangenschaft freikam.
In seinem 2018 erschienenen Werk beschreibt Scheerer die Atmosphäre der Angst und des unwirklichen Einbruchs der Gewalt, der er als Teenager gemeinsam mit seiner Mutter ausgesetzt war, als sein Vater entführt wurde. Damals quartierten sich Polizisten im Haus der Familie ein, der Sohn war immer vom schlimmsten Ausgang der Entführung überzeugt. »Echte Hoffnung, ihn lebend wiederzusehen, hatte ich nie gehabt«, heißt es im Buch.
Der junge Schauspieler Claude Heinrich spielt in der Verfilmung des Stoffs durch Regisseur Hans-Christian Schmid den Jungen Johann mit sanft verschlossener Miene, sympathischer Verstocktheit und stets etwas ängstlichem Blick. Die künstliche Aufgekratztheit seiner von Adina Vetter dargestellten Mutter, die Aufmunterung durch die Kriminalbeamten (Yorck Dippe und Enno Trebs als kumpelhaft-cooles Duo) können den jungen Helden nicht aus seinem Schock- und Verzweiflungszustand befreien. Jeder fehlschlagende Versuch des Familienanwalts oder der Polizei, das Lösegeld zu übergeben und den Entführten freizubekommen, lässt den Jungen Johann tiefer in seiner Isolation versacken.
Der Regisseur Schmid bleibt sehr einfühlsam stets nah an seinem Helden und macht sein Seelendrama in ruhigen, manchmal albtraumhaft schleppenden Bildern spürbar. Dass es diesem Film über ein Schwerverbrechen ein bisschen an Spannung fehlt, kann man ihm nicht vorwerfen – es ist schlicht darin begründet, dass die meisten Menschen im Publikum das erlösende Ende der Entführungsstory bereits kennen dürften. Wolfgang Höbel
»Wir sind dann wohl die Angehörigen«, Deutschland 2022. Regie: Hans-Christian Schmid. Drehbuch: Schmid, Michael Gutmann. Mit Claude Heinrich, Adina Vetter, Enno Trebs, Yorck Dippe. 118 Minuten.

Darsteller Gainsbourg, Kassovitz in »Menschliche Dinge«: Schwer zu lösendes Rätsel
Foto:Jérôme Prébois / MFA+
»Menschliche Dinge«
Was ist wirklich passiert? Um diese Frage kreist der Film 140 Minuten lang und geht in viele Richtungen, um eine Antwort zu finden. Die 17-jährige Mila (Suzanne Jouannet) erstattet bei der Polizei Anzeige und behauptet, von dem 22-jährigen Alexandre (Ben Attal) vergewaltigt worden zu sein. Die beiden sind zusammen auf eine Party gegangen, nach Alkohol und einem Joint hätten sie einvernehmlich Sex gehabt, erklärt der Elite-Student, Sohn prominenter Eltern. Seine Mutter ist mit Milas Vater (Mathieu Kassovitz) liiert.
Yvan Attals Film, der auf einem Roman von Karine Tuil basiert, erzählt die Geschichte zunächst aus der Perspektive der beiden Protagonisten, erst aus der von Alexandre, dann aus der von Mila. Was tatsächlich vorgefallen ist, spart er aus. Vielmehr beschreibt er, wie der Fall die Beziehungen zwischen den beteiligten Familien grundlegend verändert und zerrüttet. »Menschliche Dinge« mündet schließlich in die Gerichtsverhandlung und die Urteilsverkündung.
Dass Mila etwas erlebt hat, was für sie eine Vergewaltigung mit traumatischen Folgen war, steht bald außer Zweifel. Doch war Alexandre klar, dass sie keinen Sex mit ihm haben wollte? Der Film zeichnet ihn als ziemlich unsympathischen, von sich selbst überzeugten Kerl. Es würde einen nicht überraschen, wenn er gelogen hätte. Aber können wir sicher sein?
Es nicht unproblematisch, einen Film über einen Vergewaltigungs-Fall machen, bei dem die Zuschauer ständig die Seiten wechseln müssen. Soll das Publikum selber wie Wahrheit finden? Oder irgendwann völlig ratlos sein? Attal schafft es aber, sein Publikum in den komplexen Fall hineinzuziehen und es spüren zu lassen, welche großen, kaum noch zu heilenden Verletzungen er hinterlassen wird. Lars-Olav Beier
»Menschliche Dinge«, Frankreich 2021. Regie: Yvn Attal, Drehbuch: Attal, Yaël Langmann. Mit Suzanne Jouannet, Ben Attal, Charlotte Gaisbourg, Pierre Arditi, Mathieu Kassovitz. 138 Minuten.

Sinnsuche mit Musik: Darsteller Aylin Tezel, Sohel Altan Gol in »Der Russe ist einer, der Birken liebt«
Foto:Juan Sarmiento G. / Port au Prince Pictures
»Der Russe ist einer, der Birken liebt«
Die Suche nach der eigenen Identität ist für jeden Menschen, der sie betreibt, ganz bestimmt eine hochspannende Angelegenheit, leider für den Rest der Welt oft nicht so. Der Film »Der Russe ist einer, der Birken liebt« von Pola Beck macht aus der wunderbar nonchalanten Buchvorlage der deutsch-aserbaidschanischen Olga Grjasnowa ein ziemlich trübsinniges Porträt einer anmutigen, merkwürdig blassen Heldin. Die junge Frau Mascha, die von der grundsätzlich bewundernswerten Schauspielerin Aylin Tezel gespielt wird, taumelt durch ihr Jungdolmetscherinnen-Leben und durch diverse Betten. Sie schaut in Israel mit ebenso verlorenem Blick in die schöne Gegend wie in Deutschland. Sie lässt sich leider gruselig banale Fragen von ihrer hübschen Liebhaberin (Yuval Scharf) stellen. Und sie erkennt eine bisschen zu spät, was sie an ihrem ein bisschen faden und dann plötzlich kranken Freund Elias (Slavko Popadic) hat.
Becks Film zeigt in vielen ausgesucht geschmackvollen und betont deutlich selbst mäandernden Bildern eine Schlafwandlerin, deren innere Nöte sich leider nicht mitteilen. Die Regisseurin Beck hat mit Tezel im Jahr 2012 den wirklich ergreifenden Lebenssinnsucherinnen-Film »Am Himmel der Tag« gedreht, ihr neues Werk ist vollgepackt mit niedlich vor sich hindudelnder Musik und lässt einen doch erschütternd kalt.
Wolfgang Höbel
»Der Russe ist einer, der Birken liebt«, Deutschland 2022. Regie: Pola Beck. Drehbuch: Burkhardt Wunderlich nach dem Roman von Olga Grjasnowa. Mit Aylin Tezel, Yuval Scharf, Slavko Popadic. 105 Minuten.