Filme der Woche Die Lust beim allerletzten Mal

Gaspard Ulliel, Vicky Krieps in »Mehr denn je«: Wie verbringt man seine Abschiedstage?
Foto: Pandora Film»Mehr denn je«
Endlich hat Hélène die Anhöhe erklommen, die von den Bewohnern der Gegend »Empfangshügel« genannt wird. Weit und breit ist dies hier in Norwegen der einzige Ort, an dem man mit dem Handy telefonieren kann. Überall sitzen Menschen in der Landschaft und führen Gespräche. Hélène hat sich hier hochgekämpft, sie leidet an einer unheilbaren Lungenkrankheit, die ihr die Luft zum Atmen nimmt. Die 33-Jährige weiß, dass sie in ihrem Leben nur noch wenige Telefonate führen wird. Sie ruft ihren Freund an. Ein schwieriges Gespräch. Denn Hélène will ihre letzten Tage allein verbringen.
Der deutsch-französisch-iranischen Regisseurin Emily Atef, 49, ist mit ihrem Film »Mehr denn je« ein überaus eindringliches, zugleich trauriges und tröstliches Drama gelungen. Zusammen mit ihrer Hauptdarstellerin Vicky Krieps , 39, erzählt sie ebenso komplex wie bewegend, wie schwierig es ist, selbst über den eigenen Tod zu entscheiden. Die Kunst dieses Films besteht darin, uns eine Figur nahezubringen, die ganz anders denkt und empfindet als vermutlich die meisten. »Mehr denn je« lässt von Beginn an spüren, dass zwischen todkranken und gesunden Menschen eine Grenze verläuft, die nur schwer überwunden werden kann.
Schritt für Schritt beschreibt der Film Hélènes Entfremdung von den Lebenden, auch von ihrem Freund Mathieu (Gaspard Ulliel). Wie die beiden versuchen, noch einmal miteinander zu schlafen, obwohl Hélènes Zustand dies nicht mehr erlaubt – daraus machen Atef und ihre Darsteller eine herzzerreißende Liebesszene voller Lust, Verzweiflung und Zärtlichkeit. Es ist packend, wie die in Berlin lebende Luxemburgerin Krieps, die in diesem Jahr bereits in dem Historienfilm »Corsage« als Kaiserin Elisabeth von Österreich brillierte, Fragilität mit Stärke verbindet und Hélènes ständiges Ringen einander widerstreitender Gefühle verkörpert. Lars-Olav Beier
»Mehr denn je«. Frankreich/Deutschland/Norwegen/Luxemburg 2021. Regie: Emily Atef. Buch: Atef, Lars Hubrich. Mit Vicky Krieps, Gaspard Ulliel, Bjørn Floberg. 123 Minuten.
»Die stillen Trabanten«
Es sind die Sentimentalitäten und Sehnsüchte der sogenannten kleinen Leute, durch die der Schriftsteller Clemens Meyer und der Filmemacher Thomas Stuber den Kinozuschauerinnen und -zuschauern das adventlich gestimmte Herz wärmen. Die beiden haben schon in den Filmen »Herbert« (2015) und »In den Gängen« (2018) von sympathisch angeschlagenen Menschen aus dem Boxsport- und Supermarkthelfermilieu erzählt. In »Die stillen Trabanten« kann man nun Martina Gedeck als trinkbegeisterte Bahnreinigungskraft sehen. Oder Albrecht Schuch in der Rolle eines pfiffigen, aber nicht sehr erfolgreichen Mannes hinterm Imbisstresen.

Irina Starshenbaum, Charly Hübner in »Die stillen Trabanten«: Emotionaler Notstand und Hoffnung auf Erlösung
Foto: Warner Bros.Eine Melancholie wie in den Theaterstücken von Ödön von Horváth zeichnet die Proletenpassion von offenbar in und um Leipzig lebenden Menschen aus. Und wenn diese Menschen ein wenig Hoffnung schöpfen, dann fürchtet man sofort, dass sie gleich mit gebrochenen Flügeln im Graben landen. Charly Hübner etwa spielt einen Wachmann, der sich in eine junge Geflüchtete (Irina Starshenbaum) verliebt. Der Film, in dem auch die Schauspielerin Nastassja Kinski ein Comeback feiert, erzählt manchmal drastisch von Sexnotstand, Ausbeutung und der Hoffnung auf Erlösung – und guckt doch immer zärtlich auf seine Figuren. Spätestens beim Abspann dürften die meisten im Publikum in der Stimmung sein, eine Kerze für die Heldinnen und Helden dieses Films anzuzünden. Wolfgang Höbel
»Die stillen Trabanten«. Deutschland 2022. Regie: Thomas Stuber. Buch: Stuber, Clemens Meyer. Mit Martina Gedeck, Lilith Stangenberg, Albrecht Schuch. 120 Minuten.
»Sonne«
Der Gesang der drei Freundinnen ist dünn und leiernd, aber ihre Moves und ihr Outfit gleichen das aus: Den Hintern schüttelnd und zugleich Kopftuch tragend singen Yesmin (Melina Benli), Nati (Maya Wopienka) und Bella (Law Wallner) den Neunzigerjahrehit »Losing My Religion« von R.E.M. und filmen sich dabei.

Szene aus »Sonne«: Schillernde Vermischung von Autobiografischem und Fiktionalem
Foto: Neue VisionenIn der muslimischen Community von Wien, wo die drei Schülerinnen wohnen, geht der Clip zunächst viral. Dann kommt der Ärger. Yesmin ist die Einzige, die in einer muslimischen Familie aufwächst. Kopftuch hoch, Kopftuch runter: Das hat für sie wirkliche Konsequenzen, während es für ihre Freundinnen nur eine Pose ist.
Wie Identitätssuche über Länder und Medien hinweg funktioniert, hat die österreichisch-kurdische Regisseurin Kurdwin Ayub über zehn Jahre lang vor allem im Dokumentarischen erprobt – auch an sich und ihrer eigenen Familie. So entstand das Porträt »Paradies! Paradies!« ihres unglaublich unterhaltsamen Vaters, der im Ruhestand zurück in den Irak ziehen will.
In Ayubs erstem Spielfilm »Sonne«, der auf der Berlinale als bestes Debüt ausgezeichnet wurde, sind ihr Vater und ihre Mutter dabei, sie spielen die Eltern von Yesmin, die wiederum ein Alter Ego von Ayub ist. Die Vermischung von Autobiografischem und Fiktionalem macht »Sonne« schillernd. Die Stärken des Films liegen aber nicht auf der Metaebene, sondern in der Direktheit, mit der sich Ayub ihren Figuren nähert und von deren unordentlichem Leben erzählt. Mit »Mond« hat sie bereits den nächsten Spielfilm in Planung. Hannah Pilarczyk
»Sonne«. Österreich 2022. Buch und Regie: Kurdwin Ayub. Mit Melina Benli, Law Wallner, Maya Wopienka. 88 Minuten.
Im Streaming
»Das Wunder« (Netflix)
»Wir sind nichts ohne unsere Geschichten«, sagt die Erzählerin zu Beginn von »Das Wunder«, und die Kamera schwenkt dazu über ein Filmset hinein in eine Szene aus dem Irland des Jahres 1862. Die fantastische Schauspielerin Florence Pugh ist dort als britische Krankenschwester zu sehen, die in das tief katholische Nachbarland reist, um ein Wunder zu bezeugen. Ein zehnjähriges Mädchen, Tochter eines armen Torfstechers, hat angeblich seit vier Monaten nichts gegessen. Die Krankenschwester soll bei ihr Wache halten und beobachten, ob das Kind wirklich nur von »Manna vom Himmel« lebt, wie es selbst sagt.

Geschichten, die Menschen sich erzählen: Florence Pugh in »Das Wunder«
Foto: Christopher Barr / NetflixDas Wunder im Zentrum des Films sind die Geschichten, die wir uns erzählen, um unserem Leben Sinn zu geben. Geschichten, die so stark sein können, dass Eltern bereit sind, für sie das Leben ihres Kindes zu opfern. Manchmal aber, so zeigt der gefeierte chilenische Filmemacher Sebastián Lelio, schreiben wir die Geschichten unseres Lebens selbst, oder es gelingt uns gar, sie umzuschreiben und ihnen eine neue Richtung zu geben. Mit schwebenden Bildern lässt Lelio eine ganz und gar unglaubliche Geschichte entstehen, deren Ende so satt macht wie das beste Manna des Himmels, auch wenn es hier die Menschen ganz allein sind, die sie schreiben. Oliver Kaever
»Das Wunder«. USA/GB/IRL 2022. Regie: Sebastián Lelio. Buch: Alice Birch, Emma Donoghue, Lelio. Mit Florence Pugh, Tom Burke, Niamh Algar. 103 Minuten.