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BÜCHER / NEU IN DEUTSCHLAND Flecken in Fugen

Günter Herburger: »Die Messe«. Luchterhand; 484 Seiten; 24 Mark.
aus DER SPIEGEL 18/1969

Herburger über Fleischkäse: »Auf der gemaserten Schnittfläche stehen in den Fugen zwischen Fettklümpchen und Gewürzflocken schillernde Sulzflecken, die kühl auf der Zunge liegen, ehe sie zerlaufen ...«

Über Rentner: »Haare, die aus verknorpelten Altmännerohren stehen, haben an den Spitzen Schmutzklümpchen hängen.

Über eine Speiseeis-Fabrik: »Kalte Schmiere, Zuckerrotz, abgebrochene Stielhölzchen und gärende Soleflecken ...«

Wahrhaftig, dieser Autor kennt sich aus -- nicht nur in der Eisfabrik, sondern auch in einem Versehrten-Hospital und auf einer Möbelmesse; er weiß, wie man eine Vorhangschiene anbringt und was sich beim Geschirrspülen tut. Er ist ein Kenner aller möglichen Wirklichkeiten ("Es riecht wieder nach altem Kot« -- nach altem!), und er kann all das so genau beschreiben, wie es wohl nur wenige Kollegen können.

Günter Herburger (Erzählungsband »Eine gleichmäßige Landschaft«, Film »Tätowierung"), 37, hat sein eminentes Beschreib-, aber auch Erzähltalent, hat namentlich seinen scharfen bösen Blick für die »kalte Schmiere«, die Häßlichkeiten des zeitgenössischen (deutschen) Alltags, die Stockflecken und Schorfstellen der zivilisatorischen Realität erstmals auf Romanlänge strapaziert -- und sich dabei übernommen.

Die Geschichte vom jungen Hermann Brix, der seinen toten Vater als Nazi-Verbrecher zu identifizieren versucht, um ihn verurteilen und in diesem Akt zu sich selbst kommen zu können, die Chronik vom ziellos aggressiven Herumtreiber, vom Enragierten, der seine Verwandten beklaut und »vor Wut ins Waschbecken pißt«, der bei keinem Job aushält und auch sexuell vagabundiert -- dieser Entwicklungsroman eines verlorenen Bürgersohns ist unterentwickelt, nur ein notdürftiges Gerüst, an dem der Autor seinen unsortierten Erlebnis- und Beobachtungsstoff aufhängen, seine Beschreibungskunststücke (und einige zumeist sadistische Imaginationstricks) vorführen kann,

Der Titel des Buches entstammt dessen letztem Kapitel, und er paßt im Grunde auch nur auf dieses, das von einer Möbelmesse handelt. Das ist bezeichnend: In dem unförmigen und thematisch diffusen Werk ist ein Bündel guter, aber disparater Erzählungen untergegangen. Nicht Herburgers Held Hermann, nicht irgendein Beispiel, das seine Geschichte geben könnte, prägt sich dem »Messe«.-Leser am Ende ein. Was bleibt, ist ein Eindruck von Herburgers Sensibilität gegenüber allem Dinglichen, das er als übermächtig-bedrängend erlebt, und von der Virtuosität, mit der er es beschreibend bewältigt -- ein Eindruck, freilich eindrucksvoll genug.

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