Pop Fließende Gefühle
Der Mann kommt in zertretenen Turnschuhen daher, abgewetzte Hosen schlottern ums dürre Gebein, der Pullover sondert seltsame Knubbel ab. Über hohlen Wangen wölbt sich ein Berg aus Zottelfell, verklebt vom Schweiß nächtelanger Konzertarbeit. Die kochtopfgroße Mütze birgt des Mannes letztes Geheimnis: Von Frisur und Haarfarbe abgesehen, hat sich der schmuddelige Künstler öffentlich bereits total entblößt.
Jason Kay, 23, gilt in Großbritannien als Pop-Aufsteiger des Jahres. Und gern befriedigt das Wunderkind die Gier des Publikums nach detaillierten und intimen Informationen aus seinem erst seit kurzem aufregenden Leben. So hat er Journalisten erzählt, daß er einst mit Haschisch gedealt und LSD-Trips geschluckt hat; daß er sich zwei Mercedes-Limousinen gekauft hat, obwohl er in seinen Liedern ständig vor der Öko-Katastrophe warnt. Und daß er seinen Kopfputz aus Hasenfell nur in einer Situation abnimmt: wenn er mit einem Mädchen ins Bett geht.
Sein Offenbarungsdrang hat dem eben noch völlig unbekannten Jungen aus dem Londoner Stadtteil Ealing die Zuneigung des Publikums eingetragen. Während Kritiker ihn einen Heuchler schimpfen, sehen seine Fans gütig über alle Widersprüche hinweg. Denn in erster Linie ist Kay, der seine Band »Jamiroquai« nach einem Indianerstamm benannt hat, Idealist.
Seine Texte lesen sich wie eine Hitliste der Weltprobleme. Musikalisch interessierten Interviewern erzählt der Pop-Prophet gern von Regenwald, Treibhauseffekt und Ozon. Seine erste Platte richtet sich an alle »Brüder und Schwestern« mit dem schlichten Aufruf: »Rettet die Welt!«
Es ist ein Engagement ohne politische Konsequenzen und vielleicht auch nur eine geniale Marketingstrategie. Kay kritisiert alle und provoziert doch niemanden, schmeichelt aber immerhin jenen ideologischen Saubermännern, die _(* Mit Stevie-Wonder-Poster. ) verbales Wohlverhalten zum intellektuellen Dogma ausrufen: Jamiroquai läßt alle Rüpelhaftigkeiten des Rock''n''Roll vergessen und versucht wohl als erste Pop-Band der Geschichte, die Forderung nach »political correctness« zu erfüllen.
Auch das musikalische Werk des jungen Aufsteigers ist an globaler Gefälligkeit kaum zu überbieten: Das Album »Emergency On Planet Earth« legt die sanften Soul-Spielereien der frühen siebziger Jahre noch einmal auf - mit erstaunlicher Sensibilität für die Seele schwarzer Musik. Bläser und Piano klingen so weich, als hätte man ihnen ein Laken übergelegt, die Bässe hüpfen elektrisiert, und Kay qualifiziert sich mit virtuosem Stammelsingsang als zweiter Stevie Wonder. Erfolg: Innerhalb von vier Tagen schoß Jamiroquai auf Platz eins der britischen Charts.
Auf der Insel, wo Kritiker derzeit mal wieder die Einfallslosigkeit der Pop-Branche beklagen, gilt Kay als Hoffnungsträger. Bis vor einem halben Jahr sang der Mann mit der Fellhaube noch auf Studentenfeten und fiel mehr durch seinen Kopfpelz als durch seine Musik auf.
Heute steht er in Hallen vor 5000 Fans, hat eine Europa-Tournee absolviert und beschallt demnächst Amerika, Japan und Australien. Die Süddeutsche Zeitung erklärte das Talent bereits zum »Tanzflächenwunder der Saison«, das britische Trend-Blatt The Face erhob den dürren Kerl gar zum Titelstar - halbnackt, aber mit Mütze. Und der Londoner Evening Standard nahm Kay in Augenschein und fragte beeindruckt: »Ist dieser Typ der größte Popstar unserer Zeit?«
Angeblich hat er dafür ein Leben lang geübt. Schon im Bauch seiner Mutter, einer Jazz-Vokalistin, will der frühreife Sonderling »das Fließen der Gefühle« gespürt haben, wenn diese als Sängerin auftrat. Später wehten die Stimmen von Dinah Washington und Ella Fitzgerald inspirierend durchs Kinderzimmer. Mit 16 kaufte er sich Schlagzeug-Computer und Mikrofon und begann zu Hause Songs aufzunehmen. Bei einem Solo-Abend im Londoner Tanzclub »Milk-Bar« fiel er Talentsuchern auf, kurz darauf war er um 100 000 Pfund und einen Vertrag über acht Schallplatten reicher.
Um seine künstlerische Freiheit kämpft er. Einen Produzenten der Plattenfirma warf er aus dem Studio; die Schattengestalt mit der Büffelmütze, Jamiroquai-Symbol auf Plattenhüllen und Werbe-Hemden, hat er selbst entworfen - nach dem Bildnis eines Medizinmanns.
Manchmal fühlt er sich auch wie ein Indianer. Dann tanzt er wild auf der Bühne herum und spürt, wie magische Energien aus dem Fellhut in seinen Körper strömen. »Der Mensch«, dämmert ihm in solchen Momenten, »ist auch nur ein Tier.« Y
* Mit Stevie-Wonder-Poster.