TECHNIK / STRÖMUNGSREGLER Flip oder Flop
Hausfrauen gilt die seltsame physikalische Erscheinung als ein Ärgernis: daß Büchsenmilch mitunter an der Dosenwand herabkleckert, statt frei herauszusprudeln.
Amerikas Ingenieure kamen auf die Idee, das Klecker-Phänomen nutzbar zu machen -- und setzten eine technische Revolution in Gang, vergleichbar der Erfindung des Transistors.
Fast drei Jahrzehnte lang war der nach seinem Entdecker, dem Ingenieur und Flugzeug-Experimentator Henri Coanda, benannte Effekt des aus der Bahn gelenkten Strömungsstrahls von den Technikern unbeachtet geblieben.
Als sie sich nun darauf besannen, eröffneten die Ingenieure eine millionenträchtige Branche -- Konkurrenz für die Elektronik-Industrie: Walzstraßen und Fließbänder, aber auch Satelliten und Raketen lassen sich mittels strömender Flüssigkeiten oder Gase schalten, steuern und überwachen.
»Strömungsregler«. von den Amerikanern »Fluidics« genannt, haben schon Unruhe in den Elektronik-Markt gebracht. Allein in den Vereinigten Staaten wurden im vergangenen Jahr Strömungsregler im Wert von rund hundert Millionen Mark produziert; für 1970 wird, wie die »New York Times« notierte, ein »Milliardengeschäft erwartet.
»Fluidics«, schrieb die US-Wissenschaftszeitung »Scientific American«, »werden zwar kaum den spektakulären Erfolg der Transistoren übertreffen, dürften aber auf die Dauer ebenso wichtig werden« Hauptvorteil: noch größere Verläßlichkeit, als elektronische Systeme sie schon bieten.
Der neuartige Typ von Regelsystemen, erläuterten Fluidic-Experten kürzlich auf einer Fachtagung in Turin, bewährte sich inzwischen als handfeste Variante zur elektronischen Steuerung. Die weitgehend stoß- und hitzeunempfindlichen .Strömungsregler dienen beispielsweise
* als Schaltelement, etwa in Erdölleitungen und automatischen Tanksäulen, aber auch in Getrieben für Automobile:
* zur Steuerung industrieller Prozesse -- etwa bei der automatischen Zuführung von Baumaterial zu einem Montageband;
* als Steuerelement in der Luft- und Raumfahrt, etwa zur Lenkung komplizierter Flugmanöver (Betanken in der Luft). oder als Raketen-Leitsystem;
* als Navigationshilfe für Torpedos und Flugzeuge, aber auch als Richtungsweiser bei Fußmärschen amerikanischer Soldaten im Dschungel Vietnams, sowie zur Temperaturregelung in Raumfahrtanzügen. Durch ein Mißgeschick hatte Henri Coanda den in Fluidics genutzten physikalischen Effekt entdeckt. Mit einem sperrhölzernen Luftgefährt wollte der gebürtige Rumäne im Jahre 1910 auf einem Feld bei Paris den ersten Jet-Flug in der Geschichte der Luftfahrt unternehmen.
Doch statt in geradem Strahl schlugen die Düsenflammen nach allen Seiten zungelnd aus dem Triebwerk und drohten die fliegende Kiste in Brand zu setzen. So gelang Coanda, nach dem hitzigen Start, nur ein Luftsprung; dann zerschellte sein Flugzeug am Boden.
Wie Milch an die Dose, erkannte der Bruchpilot, hatten sich die Flammen an die Strahlschutzbleche geschmiegt. In Feierabend-Experimenten fand Coanda -- inzwischen Chef-Ingenieur der britischen Bristol Aeroplane Company -- zumindest für die einfacheren Strömungs-Phänomene die Erklärung: Die ersten Milchtropfen beispielsweise, die aus der Dose quellen, wirbeln sogleich einen Teil der umgebenden Luft mit. Zwischen Milchstrahl und Dosenwand kann so kurzfristig ein geringer Unterdruck entstehen. Folge: Der Strahl wird zur Wand hin abgelenkt.
Vor zehn Jahren entdeckten jedoch amerikanische Forscher die ungleich bedeutsamere Möglichkeit, das kuriose Coanda-Phänomen zu nutzen -- für die Regler-Technik. Bei Strömungsversuchen in den Harry-Diamond-Laboratorien der US Army erkannten Ray W. Warren, Billy M. Horton und Dr. R. E. Bowles, daß Gas- und Flüssigkeitsströme mit Hilfe des Coanda-Effekts ebenso gesteuert werden können wie elektrische Ströme durch Transistoren.
Grundfigur der seither entwickelten Strömungsregler ist ein Y-förmiges Röhrensystem mit zusätzlichen Kontroll-Leitungen zu selten der Y-Gabelstelle (siehe Graphik). Sobald der Strom des Gases oder der Flüssigkeit die Gabelung erreicht, wirkt sich der Coanda-Effekt aus -- der Strahl haftet an einer Wandseite und strömt nur durch einen der beiden Gabeläste aus.
Mit den seitlichen Kontroll-Strahlen aber kann diese -- sonst zufällige -- Richtungswahl vorbestimmt werden:
* In der einfachsten Form der Röhren-Gabelung läßt ein leichter Kontrollstoß von links den Hauptströmungsstrahl nach rechts, ein Kontrollstrahl von rechts den Hauptstrahl nach links schwenken ("Flipflop-System") -- das Fluidic-Element wirkt als Schalter.
* In einer Gabelung, bei der eine Ausbuchtung an der Röhren-Verzweigung den Coanda-Effekt verhindert, teilt sich der Hauptstrom normalerweise gleichmäßig in beide Richtungen. Ein beständiger seitlicher Kontrollstrom aber lenkt je nach seiner Stärke den Hauptstrom mehr oder weniger weit ab, so daß die durch einen Gabelast ausströmende Gas- oder Flüssigkeitsmenge nach Belieben reguliert werden kann -- das Fluidic-Element wirkt als Verstärker.
In einer Erdöl-Raffinerie beispielsweise können mit Fluidic-Systemen die Ölströme aus der Pipeline in die einzelnen Zuleitungen zu Tanks und Crackanlagen verteilt werden, ohne daß Klappen oder Ventile geöffnet und geschlossen werden müssen.
Amerikanischen Technikern ist es inzwischen aber auch gelungen, die anfangs klobigen Fluidics auf Miniaturformat zu bringen. Pneumatische Regelsysteme können in Form haarfeiner Kanäle in Glaskeramik- oder Blechplättchen von einem hundertstel Millimeter Dicke geätzt werden. In vielen Lagen übereinandergepackt und durch sinnreiche Strömungsschaltungen verbunden, vermögen solche Fluidics weit kompliziertere elektronische Steuergeräte zu ersetzen.
Ein derartiger pneumatischer Computer von der Größe einer Zigarrenkiste -- entwickelt von der großen New Yorker Fluidic-Herstellerfirma Corning Glass Works -- steuert beispielsweise eine Presse für gläserne Kuchenteller. Der automatische Schalter gibt die Befehle für jeweils zehn aufeinanderfolgende Arbeitsgänge -- vom Abschneiden des zähflüssigen Glasklumpens über das Prägen und Überprüfen des Preßteils bis zur Vorbereitung der Form für den nächsten Preßvorgang -- innerhalb einer einzigen Sekunde.
Fluidic-Pionier Dr. Bowles entwickelte Strömungsregler für Waschmaschinen und Geschirrspülautomaten. Die US-Firma Mattel baut pneumatisch gelenktes Spielzeug, das auf Kommandorufe reagiert (Fluidic-Sensoren empfangen die Schallwellen aus der Luft). Die General Time Corporation hat sich die erste Fluidiegesteuerte automatische Zahnbürste patentieren lassen.
Am bislang aufsehenerregendsten Strömungsregler-Projekt arbeiten die Fluidic-Forscher der Harry-Diamond-Laboratorien zusammen mit Ärzten des Walter-Reed-Krankenhauses in der amerikanischen Bundeshauptstadt Washington. Die US-Wissenschaftler wollen einpflanzbaren Organ-Ersatz konstruieren, der sich mittels Fluidics selbsttätig regelt: Beatmungsgeräte und künstliche Herzen.