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ERZIEHUNG Flirt mit der Freiheit

Gelang das Experiment amerikanischer Hippie-Kommunen, Kinder frei von bürgerlichen Normen aufwachsen zu lassen?
aus DER SPIEGEL 29/1976

Voller Verachtung für die Normenzwänge der Leistungsgesellschaft kehrten Blumenkinder und Hasch-Hippies der sechziger Jahre ihren Eltern den Rücken. Doch schon an den Kindern der Blumenkinder erweist sich: Mit der Gegenkultur entstanden neue, teilweise noch bedrückendere Zwänge, als es sie in der Kleinfamilie gibt.

Dieses Fazit zog das amerikanische Autorenehepaar John Rothchild und Susan Wolf, nachdem es acht Monate lang in einem alten VW-Bus quer durch die USA von Kommune zu Kommune gereist war*. Zweck der Reise: Zu erkunden, ob es den Aussteigern und Konsumverweigerern gelungen sei, »aus dem Teufelskreis herauszukommen, in dem wir anderen uns gegenseitig ungenießbare Hamburgers und schlechte Nachrichten verkaufen«.

Vor allem um die Kommunekinder ging es den beiden Testern -- darum, ob ein Nachwuchs, der keine Sexualtabus kennt, Marihuana raucht und weder abends zu Bett noch morgens zur Schule muß, sich erkennbar glücklicher und freier entwickelt als das US-Normalkind.

Mit Sohn Chauncey, 5, und Tochter Bernsie, 3, kampierte das Paar bei Hasch-Kommunarden in Florida und

* John Rotchild and Susan Wolf: »The Children of the Counterculture. Verlag Doubleday & Company Inc., New York: 208 Seiten; 7,95 Dollar.

in Wohngemeinschaften von Polit-Radikalen im kalifornischen Berkeley. Sie lebten eine Weile mit den Jesus People, dann bei den Hare-Krishna-Jüngern, bei abgeschiedenen Landkommunen in den Bergen, auf der Farm des Kommunarden-Pioniers Steve Gaskin in Tennessee ("High ohne Drogen") und im Drogenrehabilitationszentrum Synanon bei San Francisco.

Auf Muttersöhnchen und Nägelbeißer sind sie auf ihrer Forschungsreise zwar nirgends gestoßen, auch nicht auf Verdrückte oder Quengler. Dafür begegneten ihnen erschreckend viele Verwahrloste und Teilnahmslose, die weder lesen noch schreiben können noch nennenswerte kreative Aktivitäten entwickeln. Vor allem in den Stadtkommunen war die Bilanz der Kinder-Forscher überwiegend negativ. Positive Ausnahmen hingegen gab es vorwiegend in freien Landkommunen.

»So etwas wie ein freies Kind«, resümierten die Autoren, »gibt es nicht.« Vielmehr würden die Kinder von elitären Hippies an den Vorzugsplätzen der Ausgeflippten, in Los Angeles oder Miami, häufig als eine Art Versuchskaninchen verstanden, an denen die Eltern ihre Freiheitstheorien und Lebensphilosophien erproben.

Zwar verabscheuen solche Hippie-Eltern das repressive »Du sollst nicht«. Sie fordern dem Kind keine Alltags-Disziplin ab wie etwa Zähneputzen ("Es sind schließlich seine"). Auf sogenannten Free Schools soll sich ihm das Leben ohne »schulische« Forderung und Anleitung im Spiel erschließen.

In Wahrheit aber, so glauben Rothchild und Wolf, dienen diesen Eltern, die sich meist auf dem Ego-Trip befinden, die freiheitlich-anarchischen Erziehungsideale vor allem dazu, sich selber ohne Schuldgefühle einen möglichst großen Freiraum zu schaffen.

Sie sähen sich zwar als Weltveränderer -- pflegten dabei aber insgeheim oft eine Rückversicherung: Manche ließen ihren Nachwuchs nachts dann eben doch zwangsweise nachbüffeln. »Wenn der Flirt mit der Freiheit nämlich nach einem Jahr oder so zu Ende ist«, registrierten die beiden Tester, dann solle der Weg nach Harvard nicht ganz verbaut sein.

Bei den Recherchen im Hippie-Milieu stießen Rothchild und seine Co-Autorin auf so kaputte und gestörte Existenzen wie den zehnjährigen Ben. Bereits im Alter von sechs Jahren hatte ihn seine Hippie-Mutter, die ihm das Fernsehen verbietet, weil es »den Geist vergiftet«, in einem mexikanischen Hotel zum Geschlechtsverkehr animiert: so wollte sie ihn vor einem Ödipus-Komplex, »einem Leben voller Freudscher Gewissensbisse und Ängste«, bewahren.

Wie bürgerliche Eltern gute Zeugnisse, so erwarteten Bens Eltern von ihrem Sprößling sexuelle Kraftakte. Wollte sich der Junge vor den Annäherungen seiner Mutter und ihrer Freundinnen schützen, mußte er seine Zimmertür verriegeln. Ben auf die Frage, was er wirklich gern tun würde: »Fernsehen.«

Auch für Nina, 10, Tochter einer geschiedenen Drogen-Abhängigen, war die schrankenlose Freiheit der Subkultur eine offenbar eher angsterweckende Erfahrung. In ihrer Sehnsucht nach einem normalen Leben richtete sie sich unter lauter Drogen-Krüppeln in einem verwahrlosten leeren Haus ihr Zimmer als bürgerliche Idylle ein. Darin sah es aus wie im Versandhauskatalog: Spitzenvorhänge, eine Frisiertoilette, Kamm, Bürste. Spiegel in Reih« und Glied, ein Teddybär, der auf dem kleinkarierten Bettüberwurf thronte. Scherzt Ninas Mutter: »Wenn du ein pingeliges Kind haben willst, sei ausgeflippte Mutter.«

Doch schließlich fanden die Autoren auch den Gegentyp -- so in New Mexico zum Beispiel den zwölfjährigen Andy, der allein mit einer dressierten Ratte trampte, von Landkommune zu Landkommune.

Sein erklärtes Ziel war es, 150 Dollar zu verdienen, um davon ein Psycho-Training zu bezahlen. Der Junge, der ohne feste Elternbeziehung in der Gruppe aufgewachsen war, wirkte besonders aufgeweckt und erschien dem Autoren-Paar, mit dem er eine Weile lebte, als »das wohlerzogenste Kind, das wir je getroffen haben«. Andys Erziehung war von dem mehr asketischen, von elterlicher Egomanie unbeeinflußten Lebensklima in den Agrar-Kommunen bestimmt worden.

Der Junge benahm sich nicht etwa wie ein dressiertes Kind. Seine Höflichkeit war die des Unabhängigen. »Er war«, schildert ihn die Untersuchung, »zu wenig auf uns angewiesen, um gegen uns rebellieren zu müssen.«

Kommunekinder wie Andy, das stellten die beiden außerhalb der Städte immer wieder fest, haben ein weniger verkrampftes, offeneres Verhältnis zu ihren Eltern. Auch sie sind häufig »ungebildet«. können höchstens Comic-Hefte lesen, dafür wirken sie selbstbewußter und harmonischer als vergleichbare »Normalkinder«. In ländlichen Bruderschaften, unter jointrauchenden Makrobiotikern, werden sie »nicht darauf vorbereitet, die Aufnahmeprüfung im College zu schaffen, sondern sich wohl zu fühlen«.

Ob sie danach je den Anschluß an das Leben außerhalb der Gegenkultur finden könnten, falls sie das einmal wünschten? Die Autoren bezweifeln es. Alles emotionale Wohlbefinden, das Kommune-Eltern ihren Kindern so oder so zu vermitteln versuchen, gehe nun einmal auf Kosten jener Zielstrebigkeit, die Voraussetzung der individuellen Leistung sei.

»Bedeutende Schriftsteller oder Wissenschaftler«, so das Fazit der beiden Kommune-Wanderer, die eher enttäuscht mit ihren Kindern ins angepaßte Amerika zurückkehrten, »werden aus dieser Generation von Schmuddelkindern nicht hervorgehen.«

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