FLOWER POWER AUF TEUTONISCH
Fünftausend Kinder Schwabings drücken von außen gegen die Pforten des neuen Beton-Etablissements, dessen Vergnügungs-Motto ihnen in einer monatelangen Werbekampagne vertraut geworden ist: Seid lieb zueinander! Kundschaft mit engelsanften Hippie-Gesichtern sprengt die Notausgänge auf, zerdrückt Brillengläser und Kellerfenster und überrennt die Kasse. Flower power -- jetzt auf teutonisch.
Dreieinhalbtausend sind schon drinnen, tausend mehr, als die Polizei genehmigt. Behangen mit Glöckchen und Papierblumen, schieben sie sich auf stufenlosen Trampelpfaden dem Zentrum der Transpiration entgegen. Von oben her überschüttet man sie mit Licht und Lärm: Erstmalig werden deutsche Twens getroffen von jenem elektronisch gesteuerten Geflacker aus 250 Schein- und Bildwerfern, das amerikanische Pioniere der Bewußtseinsvernebelung längst schätzen wie eine Prise LSD; das Kreischen wilder Paviane, die Phonart von Starfightern und Luftschutzsirenen überbrückt die Pausen zwischen Beat und Beat.
Es darf getanzt werden. Wer will, soll Wände bemalen und seinen Becher unter die Füße treten. Von den eisernen Geländern, mit denen man Gaffer und Tänzer in Bahnen zu halten gedachte, werden einige an diesem festlichen Abend bereits niedergerissen.
Dem Münchner Mietwagen-Unternehmer Anusch Samy, 33, der mit seinem Bruder Temur, 28, und dem Sänger Peter Kraus, 28, diesen bisher knalligsten gastronomischen Ballon der Bundesrepublik aufgeblasen und auf den Namen »Blow Up« getauft hat, wird angesichts so elementarer Vorgänge poetisch zumute. »Der Strom«, sagt er gemessen, »hat sich den Weg gebahnt, wie ein Fluß durch die Schlucht.«
Niedergetretenes soll nach Möglichkeit nicht wieder aufgerichtet, Aufgepinseltes nicht von der Wand getilgt werden, denn, Anusch sagt es, dieses Lokal ist ein »Action Center«, was die gestaltende Mitwirkung des Publikums einschließt. Nur den Kerlen, die mit den vom Unternehmen zu Coca und Bier gereichten Ölfarben schon wieder Sympathie für den Vietcong auf den Zement schreiben, reißt ein Herr von der Geschäftsleitung die Pinsel aus den Händen.
Soll man etwa alles erlauben? Schließlich legt das junge Unternehmen nach 850 000 Mark Installationskosten Wert auch auf den Besuch von konservativen Onkeln mit Geld. Für solche ist eine Tribüne errichtet, auf der sie im Abendanzug ungestört hinter einem Geländer sitzen und für alles das Doppelte bezahlen können.
So, von oben her aus zehn Meter Höhe, blicken Jahrgänge, bei denen sich unter der Einwirkung einer Lichtorgel weniger Tanzlust als die Bindehaut entzündet, auf eine Jugend, die unter ihnen steht und schiebt und von der sie nichts wissen. Leute wie Johannes Prinz von Thurn und Taxis oder der alte Münchner Lebekonsul Herbert G. Styler können so über einem Betonkrater thronen, in den von links und rechts überfüllte Balkone und Terrassen hineinragen. Rhythmisch wogender Nachwuchs, professionelle Hüft-Swinger und der Disc-Jockey Dave Lee Travis vom Piratensender »Caroline« sind dort wie auf Serviertellern übereinander, gegeneinander, füreinander in Bewegung.
Über den wohlsituierten Gaffern, die sich auch Geblümtes um den Hals gewunden haben, besteht, hinter Vexierglas, durch das man von außen nicht recht schauen kann, eine weitere, höhere Ebene, auf der, ganz für sich, ein Klub von nur hundert sogenannten sehr wichtigen Personen auf Kredit Champagner verbrauchen kann.
Den Gebrüdern Samy, die aus Persien kommen, aber Wert darauf legen, als geborene Kaukasier zu gelten, haben sich schon zweihundert bessere Münchner für diese Exklusivität angedient. »Alles potente Leute«, wie Anusch Samy ängstlich betont. Deshalb wünschen die kaukasischen Brüder und ihr künstlerischer Sozius Kraus, ein geheim gewähltes Bürgerkomitee möge ihnen in geheimer Wahl die Qual der Auslese abnehmen.
Doch nicht allein auf dem Olymp des Hauses, das einst ein Lichtspielpalast war, auch weiter unten sondert sich das Publikum voneinander: in junge Zuschauer beispielsweise, die sich in ihrer Cardin-Konfektion bereits zum Schwitzen zu vornehm sind, und allerjüngste Aktivisten der Hüftbewegung, die an der Garderobe wortlos Sturzhelme und Krawatten deponieren.
Manche haben Blumenbilder auf Stirn und Wangen; nicht, weil sie sich der friedvollen Lebeweise der Flower-Children hingeben wollen, sondern in der Zuversicht, so eher vom Deutschen Fernsehen wahrgenommen zu werden. Andere tragen exotische Hippie-Kostüme und um den Nabel nichts; aber auch das sind keine Hippies, sondern Kellner oder die Schwabinger Modelle einer Illustrierten, die für ihre Leser Exotik braucht. Obwohl ein jeder spielen könnte, was ihm selber einfällt, mimen sie doch alle nur Jung-Amerika.
Das Happening, bei dem kurz nach Mitternacht Münchner Maler frisch bekleckerte Leinwand unters Publikum und literweise Farbe auf ein Mädchen im Trikot schleudern, ist natürlich bestellt. Und frenetischer Jubel vom Band überschaut den Beat, bevor ein Tänzer den Mund aufklappt.
Vielen Swingern baumelt Photogerät am Hals, mit dem sie, sowie die Fernsehscheinwerfer aufblenden, swingend in ihre Umgebung halten. Selbst der affenbärtige Disc-Jockey vertauscht das Mikrophon wieder und wieder gegen ein Ofenrohr von Kamera, um es jauchzend gegen sein Publikum zu richten.
So gut wie nichts entspringt hier dem eigenen Antrieb des Publikums, das für Eintritt und Verzehrbon seine sechs Mark bezahlen und dann nur tun muß, als ob: als wäre man plötzlich inbrünstiger Teilhaber einer anderswo entsprungenen Bewegung, einer anderswo empfundenen Trance, ein Hippie schnell zwischen Herweg und Heimweg: Als-Ob-Art.
Drei wahre Hippies, die man nur zur Anregung aus New York eingeflogen hatte, schmollten und schenkten sich ihren Auftritt, bei dem sie über ihre Ideale hatten sprechen wollen. Für diesen Laden taugen falsche Hippies eher.
Zum Bedauern -von Anusch Samy, der seinen Kunden eigentlich vor dem Heimweg etwas Blow-Up-Bijouterie verkaufen möchte, wurde die erste Nacht im »Action Center« durch einen Gasangriff beendet; seiner Meinung nach eine Aktion von schäbigen kleinen Konkurrenten. Reelles Tränengas trieb die Menge zu überstürztem Aufbruch. Auf ihren Wangen verschwammen Blumen und Schminke, und tränenblind pufften sie sich durch jene Notausgänge ins Freie, durch die sie vorher hereingebrochen waren.
Ein Student griff nach einem verlassenen Mikrophon und brachte unter elektronischen Lichtgewittern halb lachend, halb weinend ein Hoch auf Rudi Dutschke aus. Aber man sah es: es geschah nicht für Dutschke, sondern aus Daffke.