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BUCHMARKT Flucht aus der Ehehölle

Leidensberichte junger Musliminnen sind hierzulande Buchmarkt-Renner - sie erzählen von Zwangsheirat, Demütigung, Flucht und neuer Hoffnung. Jüngstes Beispiel ist das Buch einer kämpferischen Deutschtürkin mit dem typischen Titel »Ich wollte nur frei sein«.
Von Verena Araghi
aus DER SPIEGEL 33/2005

Hülya Kalkan zittert vor Aufregung, als sie ihre jüngere Schwester Esme in der Ankunftshalle des Frankfurter Rhein-Main-Flughafens erwartet. Esme soll aus Antalya kommen, mit einem gefälschten Pass, den Hülya ihr besorgt hat. Die kleine Schwester flieht vor einer Zwangsehe mit einem ihrer anatolischen Cousins.

Die Familie in der Türkei sucht Esme schon längst, denn normalerweise darf sie das Haus nicht einmal ein paar Minuten ohne Begleitung verlassen. Als Hülya noch auf dem Flughafen einen Anruf von ihrer Mutter erhält, brüllt diese nur »Ich hoffe, ihr verreckt« ins Telefon.

Was Esme durchgemacht hat, weiß Hülya genau, denn auch sie floh aus Anatolien zurück nach Deutschland, vor einer von der Mutter arrangierten Ehe mit einem Fremden. Auch sie wurde mit 13 Jahren aus ihrem Schulalltag im schwäbischen Rielingshausen gerissen und in der Türkei in eine der strengen, längst verbotenen Koranschulen gesteckt. Ein Schicksal, das sie nicht nur mit ihrer Schwester, sondern mit Tausenden anderen Mädchen muslimischer Herkunft teilt.

Nach Jahren von Scham und Schweigen hat Hülya Kalkan, 26, nun unter dem Titel »Ich wollte nur frei sein« ein Protokoll ihres Leidens verfasst. Es ist nicht die einzige Anklageschrift dieser Art: Erfahrungsberichte unterdrückter Frauen aus islamischen Gesellschaften und Plädoyers für die Befreiung muslimischer Frauen gibt es mittlerweile viele, und fast alle sind Renner auf dem deutschen Buchmarkt. Allein in diesem Sommer werfen die Verlage sechs neue Titel auf die Ladentische.

In Form und Dramaturgie sind sie beinahe identisch - Ich-Erzählung, meist im Präsens, schlichte chronologische Anordnung der Ereignisse und Dialoge. Aber die grausamen Details der Leidensgeschichten sind erschütternd speziell: Männer halten ihre Frauen gefangen, prügeln und vergewaltigen sie regelmäßig, verätzen ihre »gefährlich hübschen« Gesichter mit scharfer Säure; oder hyperstrenge Großmütter verstümmeln die Geschlechtsteile ihrer jungen Enkelinnen mit Glasscherben, damit sie keine Lust empfinden können.

Genau geschilderte Torturen, die auf ein großes Publikum offenbar mit dem Reiz der Grausamkeit wirken. Die Leidensberichte versprechen gruseligen Unterhaltungswert, veredelt durch das Gefühl, am Kampf für die gute Sache teilzunehmen.

Dazu passen die reißerischen Titel:

* »Ich klage an« von Ayaan Hirsi Ali,

* »Mich hat keiner gefragt« von Ayse,

* »Erstickt an euren Lügen« von Inci Y.,

* »Fundamentalismus gegen Frauen« von Nawal El Saadawi,

* »Verschleppt im Jemen« von Zana Muhsen.

Die Bücher sind Verkaufsschlager: 80 000-mal hat sich »Ich klage an« bereits verkauft. Über 20 000 Exemplare von »Erstickt

an euren Lügen« fanden in den ersten Verkaufswochen ihre Leser. Auch für »Mich hat keiner gefragt«, »Ich wollte nur frei sein« und »Fundamentalismus gegen Frauen« erwarten die Verlage ähnliche Erfolge - sie erscheinen mit einer Startauflage von bis zu 30 000 Exemplaren.

Die Autorinnen haben die Bücher in der Regel mit Hilfe von Journalisten geschrieben. Die Manuskripte wurden über eine Literaturagentur oder durch die Ghostwriter direkt einem Verlag angeboten. Aus Angst vor Übergriffen ihrer Sippe treten Inci Y. und Ayse jedoch nur unter Pseudonym auf.

Inci Y. lässt sich auch nicht fotografieren, nicht mal ihre Kinder wissen, dass sie ein Buch geschrieben hat: »Erst wenn sie alt genug sind, um meine Geschichte zu verstehen, werde ich mich der Öffentlichkeit stellen«, sagt sie im Gespräch mit dem SPIEGEL, »für meine Familie sind die Texte Grund genug, mich zu töten.«

Inci Y., 35, hat braune Augen und kantige, scharf geschnittene Gesichtszüge, ihre Stimme ist klar und bestimmt. Sie gibt Auskunft in ihrer Wohnung in einer deutschen Kleinstadt: Die Tür zum Innenhof des gepflegten Sozialbaus steht offen, damit ein bisschen Licht in den winzigen Vorraum mit der biederen grauen Sitzgruppe fällt, in dem die Autorin selten Besucher empfängt.

Sie wurde als Kind türkischer Gastarbeiter 1970 in Deutschland geboren. Mit einem Jahr schickten ihre Eltern sie zu den Großeltern nach Ankara. Von klein auf erfuhr sie dort, dass Mädchen und Frauen minderwertige Kreaturen sind, die im Beisein eines Mannes nichts zu melden haben. Als Jugendliche kehrte Inci Y. in die Nähe ihrer Geburtsstadt zurück und schaffte mit ihren katastrophalen Schul-

kenntnissen nicht mal den Hauptschulabschluss: »Die Lehrer haben ihre eigene Strategie, die sie von aller Verantwortung befreit«, schreibt sie. »Die Bewertung ,nf' (nicht feststellbar), statt einer Note, ist der Schlüssel.«

Dann der Schock: Seine Mutter verheiratet das schöne, 17-jährige Mädchen an einen tumben türkischen Autohändler nach Anatolien, zwängt es in eine Ehe, die zum Gefängnis wird. Vergewaltigung, Prügel bis hin zu lebensbedrohlichen Attacken gehören zum bald alltäglichen Wahnsinn: Als Inci Y. ihrem Mann Hikmet einmal das »eheliche Recht« verweigert, besprüht er sie im Bett mit Insektenspray »wie eine lästige Fliege«.

Eines Tages beschließt Inci Y. endlich, aus der Ehehölle zu fliehen und sich scheiden zu lassen. Sofort beginnt eine Hetzjagd des gesamten Familienclans gegen die »Sünderin«, wie man sie nennt.

Ihr Ex-Mann will, um das Sorgerecht für das gemeinsame Kind zu bekommen, ihr ein vorformuliertes »Geständnis« abpressen - Zitat: »Ich bin eine Nutte und möchte nicht, dass meine Tochter auch eine Nutte wird. Deshalb verzichte ich auf das Sorgerecht für meine Tochter Sila und übertrage es meinem Mann Hikmet.«

Vor den Nachstellungen der Sippe flüchtet Inci Y. nach Deutschland. Seit vier Jahren lebt die Türkin nun, nach einer zweiten gescheiterten Ehe, mit ihrer 15-jährigen Tochter und dem 11-jährigen Sohn in der beengten Wohnung. Kontakt zu ihrer Familie und dem Vater der Kinder hat sie nicht. Die Räume sind liebevoll eingerichtet, aus einem Eckschrank holt Inci einen Stapel Fotografien. Auf nur einem Bild ist sie mit ihrem (ersten) Ex-Mann abgebildet: »Ich habe mich richtig geekelt vor ihm und seinem Gestank«, sagt sie.

Zwangsheirat und die damit einhergehende gewaltsame Unterdrückung der jungen Frauen, wie sie in diesen Büchern beschrieben werden, kommen nicht nur in der islamischen Welt häufig vor.

Die von den Verwandten arrangierte und erzwungene Heirat ist ein Phänomen, das sich über Jahrhunderte in patriarchalischen Familienstrukturen und autoritären Gesellschaften des Nahen und Fernen Ostens sowie Afrikas herausgebildet hat. Nach Angaben der Frauenrechtsorganisation »Terre des femmes e. V.« in Tübingen sind aber auch Griechinnen, Italienerinnen oder Brasilianerinnen betroffen. In Deutschland stammen die meisten Leidenden aus der Türkei, weil Türken und Kurden die größte Gruppe unter den Einwanderern darstellen.

Zwangsehe ist Strategie: Muslimische Familien sind in ihrem Einwanderungsland meist eine Minderheit. Nur durch verwandtschaftliche Bindungen innerhalb ihrer Sippe können sie ihre Basis in der

»Fremde« stärken und den Familienbesitz sichern. Gleichzeitig erhalten sich die Eltern durch das Verheiraten der Kinder in die »Heimat« ein Zuhause, das, so glauben sie, sie im Alter auffangen kann.

Die meist minderjährigen Mädchen können in einem Herkunftsland wie der Türkei problemlos blutjung geehelicht werden. Die Eltern wissen: Je jünger die Töchter bei der Hochzeit sind, desto früher wird ihr Lebensunterhalt von ihrem neuen Versorger finanziert. Außerdem haben sie ihre Jungfräulichkeit noch nicht verloren.

In Deutschland gilt Zwangsheirat seit kurzem als schwere Nötigung und wird strafrechtlich verfolgt. Doch ist die Ehe erst einmal im Ausland geschlossen, sind die Frauen dem dort geltenden Recht ausgeliefert.

»Haarsträubend« und »widerwärtig« seien diese auch von ihr erlebten Dinge im Einzelnen, sagt Inci Y.; und trotzdem wolle sie mit ihrem Buch kein Mitleid erregen. Gerade die in Deutschland lebenden Türkinnen sollten durch die Berichte der Autorinnen »kapieren, worin der Kern ihrer Tragödie« liege: Jede Grundbildung werde ihnen verweigert, sie würden an einen »geistigen Rollstuhl« gefesselt. »Wie sollen sie dann durch einen Beruf Unabhängigkeit erlangen und sich auf eigene Füße stellen?«

Alle Anklageschriften richten sich zunächst an Leidensgenossinnen. Doch werden diese Frauen überhaupt erreicht?

Die meisten dürfen oder wollen solche Bücher gar nicht in die Hand nehmen. Wolfgang Ferchl, Leiter des Münchner Piper Verlags, sagt: »Titel wie ,Erstickt an euren Lügen' werden ganz maßgeblich von deutschen Frauen gekauft - weil sie anfangen, sich für die Schicksale muslimischer Frauen zu interessieren, mit denen sie seit Jahrzehnten Tür an Tür leben. Da entsteht plötzlich ein Gefühl der Solidarität.«

So erreicht die Nachricht eher indirekt den eigentlichen Adressaten: »Großartig« findet Seyran Ates, türkische Rechtsanwältin in Berlin und Vertreterin unzähliger von Zwangsheirat und häuslicher Gewalt gepeinigter Frauen, dieses Phänomen: »Wir brauchen die deutschen Frauen unbedingt als Multiplikatorinnen«, sagt sie. Ates, die vor zwei Jahren selbst einen Erfahrungsbericht unter dem Titel »Große Reise ins Feuer« veröffentlicht hat, hält die Bücher der jungen Musliminnen für »wichtige Mutmacher«, die den Blick der Deutschen schärfen sollten. »Die Leser müssen erkennen, was für eine grausame Parallelwelt in ihrem Land existiert«, so die Anwältin. Denn mutige muslimische Frauen, die für ihre Befreiung kämpfen, würden im eigenen Kulturkreis immer noch als »Nestbeschmutzer« hingestellt - da kann die Unterstützung deutscher Frauen zuweilen hilfreich sein.

Die auflagenstarke und hierzulande meistgelesene türkische Zeitung »Hürriyet«, die auch schon Artikel gegen die männliche Gewaltanmaßung veröffentlicht hat, setzt sich seit März dieses Jahres intensiv mit den Autorinnen der Anklageschriften auseinander: Das Blatt veröffentlicht Auszüge aus den Büchern der Frauen und bringt eigene, angeblich gut recherchierte Gegengeschichten, die die Bekenntnisse der anderen als gemeine Lügen enttarnen sollen. »Sie stellen die Frauen als gierige Schwindlerinnen hin, die mit ihren, wie 'Hürriyet' schreibt, erfundenen Berichten nur auf großen Profit aus sind«, sagt die engagierte Ates, die für die Zukunft noch viele Erfahrungsberichte »nach Inci Y.s. Art« prophezeit. »Je mehr es sind, desto besser«, fügt sie hinzu. »Denn dann werden, langsam, aber sicher, die gewalttätigen Patriarchen von der deutschen Gesellschaft immer stärker geächtet.«

So erschütternd die Texte oft sind - fast immer fehlt es den Abrechnungen an differenzierteren Tönen und dramaturgischem Schliff, in beinahe jedem Buch sucht man vergeblich nach Passagen kühlerer Argumentation oder gar einer distanzierten Betrachtung der Misere. »Der muslimische Mann wird ja nicht als mieses Schwein geboren«, sagt Inci Y. im Interview immerhin. Auch er werde ja um fast alles betrogen, was sich »zwischen Mann und Frau abspielen kann«. Er stünde nur so im Blickpunkt, weil er derjenige sei, der die Gewalt ausübe.

Vor der Gewalt fundamentalistischer Muslime müssen sich die meisten Autorinnen fürchten, sobald ihre Bücher publiziert sind. Seit dem Mord an ihrem Kollegen, dem Filmemacher Theo van Gogh ("Submission"), steht Ayaan Hirsi Ali in den Niederlanden unter ständigem Polizeischutz.

Inci Y. zeigt sich trotzdem kämpferisch. Sie drückt ihre heruntergebrannte Zigarette aus und sagt: »Soll man mich doch umbringen. Ich habe vor niemandem Angst.« VERENA ARAGHI

* Autorin Ayaan Hirsi Ali, Hauptdarstellerin und Regisseur Theo van Gogh in Amsterdam 2004.

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