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NEW YORK Flucht nach drüben

Künstler wandern aus der Kunstmetropole Manhattan ab und ziehen über den Fluß - ein von Haus- und Bodenspekulanten erzwungener Exodus. *
aus DER SPIEGEL 3/1986

Ein Dornröschenschloß ist es nicht gerade, das winzige Apartment, in dem die Kunsthändlerin Marisa Cardinale und ihr Freund, der Maler Robert Egert, auf der New Yorker Lower East Side hausen. »Ein grauenhafter Slum!« stöhnt Cardinale, »zwischen einem Obdachlosen-Asyl und dem Hauptquartier der Hell''s Angels gelegen, und hinten mit Blick auf einen Alptraum von Hinterhof.«

Der Maler Dragan Illic konnte acht Monate lang nicht mal einen solchen »Slum« zu erschwinglichem Preis finden. Seine Lösung: Er wohnte in einem Auto. »Ein herrlicher, geräumiger Dodge«, schwärmt Illic im nachhinein, »ich habe darin sogar Zeichnungen machen können.«

So wie Cardinale, Egert und Illic haben sich Tausende von New Yorker Künstlern jahrelang krummgelegt, um in Manhattan leben zu können, manche in rattenverseuchten Mietskasernen oder auch in einer umgebauten Toilette (Monatsmiete: 350 Dollar) - all das, um im Zentrum des Kunstgeschehens zu sein.

Denn Manhattan, so sah es die Kunstzeitschrift »Art News« noch vor zwei Jahren, »ist schlichtweg ''Die City''. Nie zuvor war New York für die Kunstwelt so sehr wie heute ''Die City''. Uptown werden alte Meister verkauft ... während downtown freche junge Meister eine malerische Identität für die 80er Jahre schaffen«.

Jetzt haben viele der »jungen Meister« keine Zeit mehr für das Schaffen - sie sind viel zu beschäftigt mit dem täglichen Überleben, vor allem mit der Wohnungssuche. Denn mittlerweile schwappt die Welle der sogenannten Stadtveredelung, der »Gentrification« (SPIEGEL 46/1985), über immer neue Stadtviertel hin: Zahnärzte, Rechtsanwälte und Börsenmakler verdrängen Maler, Tänzer Schauspieler und Schriftsteller aus Vierteln, die die Künstler oft erst bewohnbar gemacht haben.

»Hier geschieht etwas ganz Schlimmes«, sagt der Maler Bill Barrell, der jahrelang von Loft zu Loft zog und doch immer wieder seine Bleibe verlor: Luxus-Wohntürme sprießen allenthalben aus dem Boden - Behausungen für mittlere und untere Einkommensgruppen dagegen entstehen so gut wie gar nicht. Mietwohnungen sind, bei umgerechnet rund 2500 Mark Monatsmiete für eine Zweizimmerwohnung, für junge Neuankömmlinge und noch nicht arrivierte Künstler unbezahlbar. »In Manhattan«, so bemerkte kürzlich das Magazin »New York«, »wird es um 1990 nur noch reiche Europäer auf der Flucht vor Terroristen geben, dazu Yuppies kurz vor der Midlife-Krise - und vielleicht noch Woody Allen.«

Um die Insel Manhattan herum allerdings kündigt sich neuerdings ein Grünen und Blühen sondergleichen an: Die Gemeinden Long Island City, Hoboken, Jersey City und Williamsburg, früher dem Durchschnitts-New-Yorker bestenfalls aus Gangsterfilmen oder als Geburtsstätte von Frank Sinatra bekannt, werden zu neuen Zufluchtsorten für das einkommensschwache Völkchen der Künstler und Freiberuflichen.

Manhattan-Bewohner, die früher auch besuchsweise nur ungern den East River überquerten, raufen sich heute um leere Fabrikgebäude in den Slums von Williamsburg. Bislang war Brooklyn ein Arbeiter- und Kleinbürger-Bezirk, aus dem Aufsteiger sich nach Manhattan hochdienten - jetzt ist es mehr als salonfähig geworden, dort ein viktorianisches »Townhouse« zu bewohnen. »Ich hätte _(Vor ihren noch zu renovierenden Häusern ) _(in Williamsburg. )

nie gedacht, daß ich je imstande wäre, Manhattan zu verlassen«, sagt Marisa Cardinale; sie und ihr Freund haben (für je unter 50000 Dollar) zwei Häuser in Williamsburg erstanden, die sie nun an Wochenenden renovieren. »Wir sind lange nicht mehr die einzigen. Es gibt schon eine Menge Künstler hier, und drei Galerien haben bereits aufgemacht.«

Tief ins Innere von Brooklyn hat sich die Photographin Francene Keery vorgewagt. Keery, die nach der »klassischen Odyssee durch Manhattan« - von SoHo über TriBeCa ins East Village - schließlich über den East River nach Carroll Gardens zog, fühlt sich immer noch nicht von Manhattan abgenabelt. »Alle meine Freunde sind in Manhattan. Meine Agenturen sind in Manhattan. Kein Botendienst kommt bis nach Brooklyn. Kaum ein Taxi will nach Brooklyn fahren. So schön es hier ist - ich habe viel Platz, zahle nur 290 Dollar Miete -, aber es bleibt eben Brooklyn.«

Andere Ex-Manhattaner weinen der überteuerten Felseninsel keine Träne nach. »Die Luft ist sauberer hier«, sagt Bill Barrell über Jersey City, wo er vor vier Jahren ein Haus erwarb. »ich habe herrliches Licht zum Malen, ziehe im Garten meine Trauben. Warum mich da drüben abquälen?«

Zu sehr hat die Stadtverwaltung von New York, das sich gern als Kunst- und Kulturzentrum präsentiert, die Kunst-Produzenten vernachlässigt. Die Stadt, der durch künstlerische und kulturelle Veranstaltungen jährlich an die sechs Milliarden Dollar zufließen, ist weit mehr daran interessiert, den bereits existierenden Bauboom weiter zu fördern und noch mehr Grundsteuern einzusacken. Ganze 25000 Dollar stehen in einem Hilfsfonds für ratsuchende Künstler bereit, ganze 150 Wohnungen sollen demnächst an bedürftige Künstler vermietet werden.

Nicht nur Wohnungen, auch Proben- und Theaterräume sind in Manhattan immer schwieriger zu finden. Aus einer Studie geht hervor, daß 29 Non-profit-Theater- und Performance-Gruppen ihre Räume entweder schon aufgegeben haben oder dabei sind, sie demnächst zu verlieren. An die zwölf Tanzschulen darunter die renommierte New York School of Ballet, geleitet von David Howard, mußten bereits aus Raumnot schließen.

Der Exodus aus Manhattan vollzieht sich mit solcher Geschwindigkeit, daß viele Bezirke direkt um Manhattan bereits völlig »ausverkauft« sind. »Bei uns in Hoboken werden schon die ersten Künstlerlofts in Eigentumswohnungen verwandelt«, sagt der Maler Adam Simon. Wer kein Geld zum Kauf hat, muß um seine Wohnung bangen.

Auch Dragan Illic, der sein Auto endlich mit einer gemieteten Bleibe in Williamsburg vertauschen konnte, ist pessimistisch: »Wir liegen gerade gegenüber vom East Village. Wenn es hier ein paar gute Kunstausstellungen gibt, dann kommen sie - wie immer - hinter uns her, und dann gnade uns Gott!«

Daß nunmehr junge Künstler über ein riesiges Areal wie die New Yorker Metropolitan Area verstreut leben, mag Wohn- und Arbeitsprobleme lösen, doch auf das Niveau künstlerischer Produktion wirkt es sich nicht eben stimulierend aus. »Eine Flaute« bescheinigt »New York Times«-Musikkritiker John Rockwell der experimentellen Kunst- und Theaterszene in Manhattan.

»Künstler brauchen Nähe und Reibungsfläche«, sagt Rick Kaufmann, der seit neun Jahren die Avantgarde-Möbelgalerie »Art et Industrie« in SoHo betreibt. »Nur durch diese Reibung, durch diese rohe Energie und ihren Transfer, konnten in der Vergangenheit Kunstzentren wie Wien oder Paris entstehen.« Kaufmann, der ein gut Teil seiner Künstler in die Vorstädte oder gar in die Provinz abwandern sah, sieht New York als Kunstmetropole schon dahinwelken.

In den 90er Jahren wird New York noch seine Position als Mittelpunkt des Kunstmarkts halten können«, orakelt er. »Doch die kreativen Jungen sind dann längst abgewandert - nicht nur nach Hoboken, sondern nach Texas, Miami oder Los Angeles, wo man ihnen günstigere Bedingungen bietet. Ich halte schon ein Auge offen für den nächsten Ort.«

Vor ihren noch zu renovierenden Häusern in Williamsburg.

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