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FORSCHUNG / TRANSURANE Flüchtige Schwere

aus DER SPIEGEL 40/1967

Der schwarzglänzende Materie-Klumpen hatte die Größe eines Apfels und wog einen Zentner. Das künstliche Element, erläuterte der Forscher, berge sagenhafte Kräfte: tausend Milliarden Kilowattstunden, genug auch, »um eine Stadt wie Salisbury in einen Aschenhaufen zu verwandeln« -- das alles in der Phantasie des Zukunftsschriftstellers Hans Dominik. Titel des Bestsellers von 1935: »Atomgewicht 500«.

An der Schwelle zum letzten Jahrhundertdrittel, drei Jahrzehnte nach Dominik, haben die Wissenschaftler jene Utopie halbwegs verwirklicht.

Vorletzte Woche meldete der amerikanische Atomphysiker Albert Ghiorso auf einem Chemiker-Kongreß in Chicago den jüngsten Erfolg: Ihm und seinen Mitarbeitern sei es gelungen, das bislang schwerste künstliche Element herzustellen, ein Isotop des Schwermetalls Mendelevium. Atomgewicht: 258.

Mit dem schweren Geschütz der modernen Atomphysik, mit elektromagnetischen Teilchenbeschleunigern, hatten Wissenschaftler der Universität von Kalifornien Materie beschossen, um eine Substanz von neuem herzustellen, die mutmaßlich vor Jahrmilliarden von der Erde verschwand.

Uran ist das schwerste in der Natur noch vorkommende Metall. Zu Beginn der Erdgeschichte hat es jedoch, wie die Forscher annehmen, eine Anzahl noch schwererer Elemente gegeben. Aber sie alle hatten die Eigenschaft, unter Abgabe von Strahlung zu leichteren Elementen zu zerfallen: Die superschweren Metalle verschwanden aus dem Katalog irdischer Substanzen.

Indem sie nun leichtere Substanzen mit unvorstellbarer Geschwindigkeit aufeinanderprallen lassen oder Schwermetalle mit zusätzlichen Atomteilchen beschießen, suchen die Wissenschaftler jene exotischen Urstoffe, die sogenannten Transurane, im Labor wieder aufzubauen. So konnten die Physiker während der letzten Jahrzehnte ein Dutzend künstlicher Elemente herstellen. Ihre Namen klingen, als entstammten sie utopischen Romanen: Americium, Einsteinium, Californium, Berkelium, Nobelium.

Einsteinium, geliefert von der amerikanischen Atombombenfabrik Oak Ridge, war wiederum das Ausgangsprodukt des jüngsten kalifornischen Versuchs. Drei hunderttausendstel Gramm dieser Substanz wurden mit Helium-Kernen beschossen -- so entstand das Mendelevium-Isotop.

Der Kern dieses Super-Atoms besteht aus 101 Protonen und 157 Neutronen. 101 Elektronen umkreisen auf sieben Bahnhüllen den Kern. »Wenn man es sehen könnte«, erläuterte Dr. Elliot Pierce von der amerikanischen Atomenergie-Kommission, »sähe es silbrig-grau metallisch aus.« Aber bisher konnte es niemand sehen: Die Berkeley-Physiker produzierten ganze 30 000 Atome des fremdartigen Stoffes -- zuwenig, um ihn selbst unterm Mikroskop sichtbar zu machen.

Überrascht freilich stellten die kalifornischen Physiker fest, daß dieses jüngste der Transurane ungemein langlebig ist. Bislang hatten die Wissenschaftler, je höher sie sich in der Stufenleiter der schweren Elemente vorantasteten, mit immer kürzeren sogenannten Halbwertzeiten rechnen müssen -- das ist jener Zeitraum in dem jeweils die Hälfte der vorhandenen Atome zerfällt.

Beim Lawrencium (Atomgewicht: 257) beispielsweise betrug die Halbwertzeit nur acht Sekunden. Und vor einiger Zeit glaubten sowjetische Wissenschaftler ein superschweres Transuran namens Kurtschatovium (Atomgewicht: 260) gefunden zu haben; aber bislang konnten sie diese Angabe nicht verifizieren -- die Halbwertzeit beträgt nur vier Zehntelsekunden.

Demgegenüber zerfällt beim Mendelevium 258 erst in zwei Monaten die Hälfte der Atome. An diese -- unvermutete -- Beobachtung knüpfen die Physiker die Hoffnung, daß sie bei noch schwereren Transuranen womöglich auf eine Gruppe besonders langlebiger Elemente stoßen könnten.

Welche Eigenschaften jene bislang noch utopischen Schwermetalle haben werden, läßt sich noch nicht voraussagen. Die nahezu unbegrenzten Möglichkeiten verdeutlichte Glenn Seaborg, Präsident der amerikanischen Atomenergie-Kommission, mit einem Hinweis auf Plutonium, das mittlerweile bekannteste Transuran: »Als das Plutonium entdeckt wurde, wußten wir nicht, wozu es taugt.« Nun dient es als Brennstoff für atomgetriebene Schiffsmotoren -- und als Rohstoff für Atombomben.

Das Wissen über die Eigenschaften der nächstschwereren Transurane, so hoffen amerikanische Physiker, wird schon in naher Zukunft beträchtlich erweitert werden. Mit einem Kostenaufwand von rund 17 Millionen Mark entsteht gegenwärtig in Burlington (US-Staat Massachusetts) eine Art Transuran-Fabrik. Dort soll nun Zug um Zug die ganze Reihe der noch schwereren Transurane hergestellt werden.

Vorläufiges Endziel dieser Entwicklungsserie ist das Element mit der Ordnungszahl 184. Es wäre etwa doppelt so schwer wie Uran, gut zweieinhalbmal so schwer wie Blei. Sein Atomgewicht läge in utopischen Bereichen -- wie bei Dominik: nahe 500.

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