SCHALLPLATTEN / NEU IN DEUTSCHLAND Flüssig
»Musik muß immer so klingen«, sagt der kanadische Pianist Glenn Gould, 36, »wie man sie vorher nie gehört hat.«
Danach hat der »beste Pianist gleich welchen Zeitalters« ("Washington Post") jetzt wieder gehandelt. Nachdem er den Flügel gestimmt und die Finger in warmem Wasser gebadet hatte, erklang -- im eigens für den kreislaufschwachen Künstler auf Tropen-Temperatur angeheizten New Yorker Studio -- »Das Wohltemperierte Klavier« auf bisher ungehörte Weise.
Anders als die Stil-Puristen am Cembalo, Helmut Walcha etwa, lockert Gould Bachs 1722 vollendetes Kompendium barocker Satzkunst durch chopineske Rubatos und viele Verzierungen auf. Und anders als die germanisch -grüblerischen Bach-Exegeten à la Edwin Fischer tritt Gould selten das Pedal und produziert so statt diffuser Misch-Töne und Wisch-Läufe flüssige Passagen und präzise Figuration.
Auch in Tempo und Agogik spielt der brillante Exzentriker Gould gerne gegen alte Branchen-Bräuche auf: Die 22 Takte des f-Moll-Präludiums beispielsweise dehnt er durch manierierte Überbetonung zum larmoyanten Largo, die 19 Takte des G-Dur-Präludiums durchrast er wie das Presto einer Clementi-Etüde.
Dazu Goulds unvermeidliche Extras: Der Kanadier schnauft, stöhnt und singt bei Bachs Piano-Polyphonie kräftig mit: »Ich spiele einfach schlechter, wenn ich nicht ein paar Töne dazu mache.«
Auch ohne diese Zugaben ist Goulds selten einmal wohl temperiertes Bach-Spiel ein attraktives Ärgernis.