17 UND 4 Formel des Glücks
Nennen Sie uns einen Mann, der ein neues 'System' erfunden hat«, so hieß es jahrzehntelang im Werbejargon der Spielbanken von Las Vegas (US -Staat Nevada). »Egal, wo er wohnt, wir werden ein Taxi hinschicken und ihn holen lassen.«
Die Spielhöllenfürsten der amerikanischen Vergnügungsmetropole schicken
kein Taxi zu Edward O. Thorp, 31, Professor für Mathematik an der New Mexico State University.
»Dieser Bursche«, kommentierte Anfang des Monats Gabriel Vogliotti, einer der Kasino-Manager, »ist der erste, der die traditionellen Gewinnchancen ... tatsächlich über den Haufen geworfen hat.«
Mit Hilfe eines Elektronengehirns hat der Mathematikprofessor ein System ausgeklügelt, das erstmals in der Geschichte des Glücksspiels dem Spieler bessere Chancen einräumt als der Bank.
»Wenn die fingerfertigen Bankhalter in den Kasinos mich nicht beschummeln würden und wenn ich acht Stunden täglich ... mit Höchsteinsätzen spielen könnte«, so berechnete Thorp seine Spielchance, »dann könnte ich die Welt und alles, was drauf ist, in 80 Tagen gewinnen.«
Das Glücksspiel, das Thorp zu einem mathematisch überschaubaren Geschicklichkeitswettbewerb degradierte, wird in bundesrepublikanischen Spielkasinos - in denen die Spieler sich um Roulett- und Bakkarat-Tische scharen - nicht gespielt. Aber in den Spielpalästen der amerikanischen Glückszentren Reno und Las Vegas ist es neben dem Würfelspiel die beliebteste Art, Dollar-Chips Über das grüne Tuch zu schieben: 17 und 4.
Durchschnittlich 280 Millionen Mark haben allein die Spielkasinos in Nevada in den vergangenen Jahrzehnten jedes Jahr mit dem flinken Kartenspiel verdient, bei dem 21 Kartenaugen über Gewonnen oder Zerronnen entscheiden.
Das dollarträchtige Punkt-Spiel - im amerikanischen Spielerjargon »Blackjack« genannt - wird zwischen einem oder mehreren Spielern und dem Bankhalter ausgetragen. Nach den in USA gültigen Regeln sind dabei 52 Karten im Spiel - wie bei Rommé oder Patience. Asse zählen wahlweise einen oder elf Punkte, Könige, Damen und Buben je zehn alle anderen Spielkarten - Zwei bis Zehn - gelten soviel wie ihr aufgedruckter Zahlenwert*.
Während die Spieler ihren Wetteinsatz placieren, verteilt der Bankhalter an jeden Teilnehmer zwei Karten. Und Spieler wie Bankhalter mühen sich dann - eventuell durch Zukauf weiterer Karten -, möglichst nahe an die Traumzahl 21 heranzukommen. Wer zum Schluß der innerhalb von Sekunden abgewickelten Kartenverteilung der 21 am nächsten ist, hat gewonnen. Wer allerdings beim Kartenkauf über diese 21 Punkte hinausgerät, gehört ebenfalls zu den Verlierern.
Es waren eher Zufall und die Neugierde des Wissenschaftlers als die Leidenschaft eines Spielers, die den Mathematiker Thorp zum - mittlerweile ungern gesehenen - Gast an den Kartenspieltischen von Las Vegas werden ließen.
Thorp, der schon als Dreijähriger bis in die Millionen zählen konnte und als Schüler Nachbarn mit selbstgebastelten Raketenautos schreckte, war - mit knapp 25 Jahren - bereits Mathematik-Dozent an der Universität von Kalifornien, als er zum erstenmal dem Spielfieber an den nierenförmigen 17-und 4-Tischen begegnete.
In einer Fachzeitschrift, dem »Journal of the American Statistical Association«, entdeckte der Wissenschaftler einen Bericht über ein mathematisch fundiertes Blackjack-System: Vier Armee -Mathematiker hatten in dreijähriger Rechenarbeit eine Strategie entwickelt, die dem Spieler fast die gleiche Gewinnchance versprach wie der Bank. Die Überlegenheit des Bankhalters sollte von den üblichen fünf auf 0,32 Prozent gemindert werden.
Während eines Weihnachtsurlaubs in Las Vegas ("Das luxuriöse, billige Essen und die erstklassigen Shows interessierten uns viel mehr als die Spieltische") erprobte Thorp, was seine Kollegen durchgerechnet hatten. Resultat: Thorp verlor nichts, aber er gewann auch nichts.
Immerhin gewann er die Einsicht, daß die routinierten 17-und-4-Spieler neben ihm ihre Wettchancen allenfalls »wie Astrologen ... im finsteren Mittelalter« abzuschätzen wußten. Und: »,Es war mir sofort klar, daß man mit Hilfe eines Elektronenrechners ein gewinnbringendes System entwickeln könne.«
Thorp überlegte sich, daß es beim Spiel um 21 Augen Karten geben müsse, die für den Spieler »gut«, und solche, die für den Spieler »schlecht« sind. Gewinnversprechend ist beispielsweise für den Spieler die Aussicht auf alle Karten, die zehn Punkte zählen; dagegen wächst sein Risiko, wenn Fünfen zu erwarten sind.
Zwar betraf diese simple Feststellung nur einen von zahlreichen spielbestimmenden Faktoren. Aber sie bewies dem Mathematiker, daß sich bei 17 und 4 tatsächlich die Gewinnchancen während des Spiels ändern - je nachdem, welche Karten aus dem bei Spielbeginn kompletten Kartensatz schon gefallen sind und welche nicht.
Mithin galt es auszurechnen, welche Konstellationen nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeitsrechnung für den Spieler am günstigsten sind - in welchen Situationen er demnach hohe Einsätze wagen kann - und welche eher für die Bank vorteilhaft sind.
Freilich, 200 ausgebildete Mathematiker hätten 50 Jahre lang rechnen müssen, um alle 34 Millionen Karten-Variationen durchzurechnen, die bei einem 17-und-4-Spiel möglich sind. Thorp fütterte das komplizierte mathematische Problem in einen Elektronenrechner - und innerhalb von drei Stunden hatte er die Resultate in der Hand.
Sie auszuwerten und in überschaubare Gebrauchsanweisungen für den Spieler am 17-und-4-Tisch umzumünzen, war eine Denkarbeit von Monaten. Sie wurde von Wissenschaftlern wie von Glücksspiel -Anhängern gleichermaßen honoriert. »Thorps Blackjack -Strategie«, so lobte Dr. Ralph Crouch, Chef der mathematischen Abteilung der New Mexico State University, »ist die größte Leistung auf dem Gebiet der Wahrscheinlichkeitsrechnung seit Cardano« (einem italienischen Mathematiker, der diese Disziplin im 16. Jahrhundert begründete).
Und Hunderte von Spiel-Routiniers versuchten Thorp noch in derselben Nacht am Telephon zu erreichen, als er im Herbst 1960 vor der amerikanischen Mathematischen Gesellschaft in Washington seine »Formel des Glücks - eine Gewinn-Strategie für Blackjack« zum erstenmal öffentlich verkündet hatte.
Die Spieler boten dem Mathematikprofessor bis zu 400 Mark Stundenhonorar für Privatunterricht in Blackjack-Strategie. Andere schlugen ihm vor, auf seinen Namen und mit seinen Kenntnissen eine spielgewinnträchtige Aktiengesellschaft zu gründen. Thorp, der darauf versessen war, das System »auch in der Praxis bestätigt zu sehen«, nahm das lukrativste Angebot an - er verbündete sich mit zwei New Yorker Multimillionären und Blackjack-Routiniers, die er in seinem Buch diskret als »Mr. XX« und »Mr. Y« umschreibt. Die beiden Geschäftsleute
waren bereit, bis zu 400.000 Mark in Thorps System zu investieren.
In einem Spielkasino am Nevada -See Lake Tahoe wucherte der Mathematikprofessor mit dem vorgestreckten Kapital. Innerhalb von zwei Stunden sprengte Thorp zweimal die Bank. Gesamtgewinn: 68 000 Mark.
Nach diesem verblüffenden Test-Ergebnis entsagte der berechnende Spieler zunächst weiteren Angriffen auf die Kassetten der Croupiers. Und er widerstand der Versuchung, das dollarträchtige Erfolgsrezept für sich zu behalten. In einem 236 Seiten starken Leitfaden verriet er, »wie man die Bank schlägt"*.
Thorp präsentierte seinen Lesern eine für Nicht-Mathematiker aufbereitete Vier-Stufen-Strategie. Dem Buch sind visitenkartengroße Merk-Blättchen beigegeben, die der Spieler vor jedem Einsatz mit einem Blick zu Rate ziehen kann:
> Bei der »einfachen Strategie« ("basic
strategy") kann der Spieler - nachdem er seine eigenen Karten und die vom Bankhalter aufgelegte Karte gesehen hat - durch einen Blick auf sein Merkblatt feststellen, ob er noch Karten zukaufen soll oder nicht. Sein Vorteil gegenüber der Bank ist bei diesem System allerdings noch gering.
> Beim »Fünfer-System« ("counting fives") muß der Spieler zusätzlich im Gedächtnis behalten, wie viele Fünfen und Asse jeweils schon gespielt wurden: Sind beispielsweise alle Fünfen aus dem Spiel, so weiß der Spieler, daß seine Gewinnchance um 3,6 Prozent höher liegt als die der Bank; mithin lohnen sich höhere Einsätze.
> Die »Zehner-Strategie« ("counting tens") verlangt außerdem, daß der Spieler mitzählt, wie viele Karten aus dem vollständigen Kartenspiel schon gespielt sind und wie viele davon zehn Punkte galten. Die Zehner-Strategie ist für den Spieler sechsmal gewinnträchtiger als das Fünfer-System.
Selbst wenn die Spielbank die Mitzähl-Strategie zu durchkreuzen sucht, etwa indem der Bankhalter nach jeder Spielrunde alle Karten von neuem mischt, ist Thorp - mit seinem vierten System - der Bank überlegen. Thorp empfiehlt dann
> die »höchste Strategie« ("ultimate strategy"): Der Spieler muß sich alle
Karten, die gefallen sind, merken.
Thorp: »Auch wenn nach jeder Runde neu gemischt wird ... kann ich damit in 20 Stunden jeweils mein Kapital verdoppeln.«
Allerdings wird nach Ansicht Thorps kaum ein Bankhalter Interesse daran haben, nach jedem Spiel neu zu mischen. Bei diesem Verfahren geht so viel Zeit verloren, daß »das Spiel einfach durch Langeweile abgetötet« würde.
Die einzigen schlagkräftigen Waffen, die dem-Spielkasino gegen Thorps elektronisch vorberechnetes Erfolgsrezept verbleiben, umschreibt der Wissenschaftler mit zwei Begriffen, die sich der mathematischen Kalkulation entziehen: »Rausschmeißen oder Schummeln.«,
In der Tat haben mittlerweile zahlreiche Spielkasinos in Nevada dem unliebsamen Gelehrten Hausverbot erteilt. Andere setzten sogleich trickkundige Bankhalter gegen ihn ein.
Verkleidet und mit falschem Bart versehen, sucht Thorp sich seither unerkannt unter die Spieler zu mischen. Er wird dennoch rasch identifiziert - an der scheinbar leichtsinnigen und allen herkömmlichen Spieler-Rezepten widersprechenden Art, Einsätze zu placieren. Thorp: »Ich habe meine Strategie schon darauf abgestellt: Ich spiele höchstens eine halbe Stunde ... und wenn ich anfange zu verlieren, setze-ich niedrig. Ich weiß dann, daß man mich beschummelt.«
Sicherlich hätten derlei zweifelhafte Schutzmaßnahmen hingereicht, Nevadas Spielbanken gegen Thorps Blackjack -Strategie zu schützen - wenn er Einzelgänger geblieben wäre. Aber das faßliche Rezeptbuch des Professors wurde mittlerweile in mehr als 35 000 Exemplaren verkauft. Und die Spielbankbesitzer schätzen, daß wenigstens 200 Anlernlinge inzwischen auch den vierten Grad mathematischer Spielkunst - Thorps »ultimate system« - schon gemeistert haben.
200 Dauer-Gewinner aber, so bemerkte jüngst das US-Magazin »Life«, »sind für Nevadas Spielhöllen-Imperium schon ein echter Krebsschaden«.
Folgerichtig entschlossen sich die Spielbank-Manager Anfang dieses Monats zu einer Maßnahme, die den drohenden Aderlaß der Bank-Kassetten eindämmen soll: Sie änderten die Spielregeln für Blackjack. Die neuen Regeln sollen verhindern, daß Thorp-Jünger bei einigen besonders gewinnträchtigen Spielsituationen Höchsteinsätze placieren.
Den Urheber der Bank-Bedrängnis, Edward Thorp, kann diese Abwehrtaktik freilich kaum mehr treffen. Der mittlerweile als Wahrscheinlichkeitsberechner begehrte Spielhöllen-Professor
- sogar die US-Luftwaffe betraute ihn
mit einem 130 000-Mark-Forschungsauftrag - sitzt in Las Vegas nicht mehr an den Blackjack-Tischen.
Thorp und sein Elektronenhirn haben sich eines anderen Glücksspiels angenommen - der amerikanischen Version von Bakkarat. Auch diesmal bewährte sich prompt an den Spieltischen Nevadas, was der Elektronenrechner dem Mathematikprofessor prophezeit hatte.
Thorp gewann unlängst beim Bakkarat pro Stunde rund 4000 Mark - bis die Kasino-Manager (so »Life") »erkannt hatten, daß der Professor wieder zugeschlagen hat«. Sie warfen ihn hinaus.
* Nach den in Deutschland üblichen Spielregeln zählen der König vier, die Dame drei und der Bube zwei Punkte.
* Edward O. Thorp: »Beat the Dealer«. Random House, New York; 236 Seiten; 4,95 Dollar.
17-und-4-Tisch in Las Vegas: Ein Buch verrät, wie man die Bank schlägt
17-und-4-Professor Thorp: In zwei Stunden 68 000 Mark