Walter Boehlich über Wilhelm Fucks: "Nach allen Regeln der Kunst" FORMELN ZUR NACHT
Daß die Literaturwissenschaft eine exakte Wissenschaft sei, ist noch keinem in den Sinn gekommen, wohl aber dem einen oder anderen zu verschiedenen Zeiten der Wunsch, daß sie eine exakte Wissenschaft sein solle. Soweit sie eine historische Wissenschaft ist, transportiert sie mehr oder minder gesicherte Tatsachen, an die Positivisten sich gern halten, aber alles andere ist der größten Subjektivität preisgegeben. Das scheint vielen ein unguter Zustand. Der Zeitpunkt ist abzusehen, zu dem, sollte sich nichts ändern, eine solche »Wissenschaft« als Spielerei abgetan und zugunsten der Naturerkenntnis aus unserem Bildungssystem herauskomplimentiert werden wird.
Die Frage, ob sich etwas ändern kann, soll hier zugunsten der Teilfrage, ob sich bei Anwendung der von dem Physiker Wilhelm Fucks vorgeschlagenen Methoden etwas ändern könnte, vernachlässigt werden.
Fucks nämlich macht sich seit wenigstens anderthalb Jahrzehnten Gedanken darüber, wie eine exakte, und das heißt quantitative Literaturwissenschaft entwickelt werden könne. Er macht sich diese Gedanken nicht allein, sondern mit Unterstützung eines Computers und einiger Kollegen von der Technischen Hochschule Aachen. Gibt es, hat er sich gefragt, auch in den Kulturwissenschaften Gesetze, gibt es Regeln der Kunst? Folgen Autoren, wissentlich oder nicht, irgendwelchen Regeln, und kann man diese Regeln quantitativ beschreiben? »Kann man ... analog der Wahrheitserkenntnis in den Naturwissenschaften den Wert und Rang von Kunstwerken objektiv und quantitativ bestimmen?«
Die Mittel, die Fucks zur Verfügung stehen, erlauben ihm, was man allenfalls Teile formaler Analyse nennen kann. Mehr nicht. Mehr will er auch nicht. Er hält sich an das, was zählbar ist. Zwar weiß er recht gut, daß Literatur ihre Wirkung nicht nur der Anordnung ihrer »Elemente« verdankt, aber mit dem, was über das Zählen hinausgeht, mag er nichts zu tun haben, das ist Sache der Fachwissenschaft. Die wird nun also, wo sie deutet oder wertet, subjektiv bleiben wie eh und je, aber sie wird ihre Subjektivität nicht nur gegen die Literatur, sondern auch gegen diesen neuen Objektivismus wenden müssen. Sie hätte, nähme sie die Herausforderung an, statt eines Gegners zwei, ihren Gegenstand und die Statistik. Sie findet nicht nur alte Rangordnungen vor, die sie beibehalten oder verändern kann, sie findet in Zukunft auch Fucksens Rangbestimmungen vor.
Wie kommen die zustande? Durch Beobachtungen von Wortlängen, Satzlängen, Schachtelungen der Sätze, Wortarthäufigkeiten und manchem mehr. Mit Einfachem wird begonnen, zum Beispiel der mittleren Wortlänge und der mittleren Satzlänge. Dabei ergibt sich, daß die mittlere Wortlänge im Deutschen bei 1,7 Silben, im Lateinischen bei 2,5 Silben liegt. Nehme ich jetzt ein einzelnes Werk, dann zeigt sich, daß der Mittelwert für den »Cornet« bei 1,5 und die »Wanderjahre« bei 1,8 liegt. Die beiden Texte unterscheiden sich also auch, wenn man sie nicht liest, sondern nur auszählt.
Der nächste Schritt bestünde darin, nicht nur die mittlere Wortlänge, sondern auch die mittlere Satzlänge festzustellen. Zeichne ich die gefundenen Werte in ein Diagramm ein, und das hat Fucks für mehr als hundert deutsche Prosatexte getan, dann sehe ich, daß Rilke extrem kurze Wörter und extrem kurze Sätze bevorzugt, Kant aber eine mittlere Wortlänge und eine extrem große Satzlänge, eine Denkschrift für die Reform der Höheren Schule eine etwa mittlere Satzlänge und eine extrem hohe Wortlänge. Zweifellos kann man das alles auch auf den ersten und zweiten Blick sehen, man brauchte es nur auszuzählen, wenn diese Daten etwas hergäben, was über Statistik hinausgeht. Tun sie das?
Fucks behauptet, man könne seiner Graphik ablesen, daß der Stil die Schriftsteller vergesellschafte. Er hat nämlich etwas gefunden, was er das »Physikerfeld« nennt, ein anderes für die Trivialliteratur, ein drittes für Goethe.
Und was fange ich nun damit an, daß Stifter und Jünger nahe beieinander und im »Goethefeld« liegen, die Gräfin Dönhoff und Nikolaus Benckiser nahe beieinander und im »Physikerfeld«, Carossa und Fontane nahe beieinander, Kant, Mommsen und der Freiherr vom Stein sehr allein für sich? Gar nichts. An keiner Stelle wird gesagt, welche Texte da analysiert worden sind, und niemand soll mir einreden, daß »Cornet« und »Malte« auch nur annähernd vergleichbar sind. Die Ergebnisse des Zählens scheinen wertfrei, sie können aber gleichfalls wertlos sein.
Der nächste Schritt wäre die Darstellung von »Satzpartituren«. Das geht so vor sich, daß ein beliebiger Satz in Sektionen geteilt wird, wobei einerseits die Silbenlänge je Sektion, andererseits der Grad der grammatischen Abhängigkeit der einzelnen Sektionen gemessen wird. Nach diesem Grade der Abhängigkeit, den verschiedenen Formen von Hypotaxe und Parataxe*, erhalten die Sätze Rangzahlen, die in den gewählten Beispielen bei Bismarck, Kant und Graß sehr hoch, bei Adenauer, Jaspers und Thomas Mann sehr niedrig sind.
Je raffinierter ein Satz gebaut ist, desto mehr Zweifelsfragen werden
* Hypotaxe: Satzkonstruktion, bei der Nebensätze einem Hauptsatz untergeordnet werden. Parataxe: Nebenordnung von Sätzen oder Satzgliedern.
auftauchen, welche Partiturhöhe einzelne Sektionen bekommen müßten. Was so unwiderleglich aussieht, ist leider auch auf Willkür gegründet. Und selbst wenn nicht? Was sagt es aus? Die Schwierigkeit, die Literatur bereitet, beginnt jeweils dort, wo Fucks ein Ergebnis liefert.
Man kann so tun, als sei eine »Sektion« ein fester Wert, anwendbar auf Kleist wie auf Adenauer, auf Balzac wie auf Joyce, aber alle diese Autoren haben ihren Sätzen eine eigene Rhythmik zu geben versucht, und die ist entscheidend. Kleist hat mit Hilfe der Satzzeichen kürzeste Sinneinheiten angedeutet, Beckett hat auf 177 Seiten von »Comment c'est« keinen Punkt und kein Komma und kein Semikolon gesetzt, Hrabal gar nur einen einzigen Satz von 94 Seiten geschrieben. Selbst wenn das Extreme wären, das Zählen versagt vor ihnen. Und die Struktur wieder ist nur ein Bruchteil der Information, die ein Text enthält. Bei der Mitteilungsprosa. an der Fucks seine Methode aus guten Gründen zu bewähren sucht, spielt sie eine untergeordnete Rolle.
Man kann das Spiel weitertreiben. Dann untersucht man die Abfolge von kurzen und langen Sätzen in einem Text. Und nun wird es grotesk. Erst wird gezählt, wie oft auf einen längeren Satz wieder ein längerer Satz folgt, und wie oft ein kürzerer, dann aber, ob auch der nächstfolgende, der dritte, der vierte Satz länger oder kürzer ist. Was dabei herauskommt, ist ein »Reichweltenindex«. Und was ich für lange und kurze Sätze mache, kann ich auch für betonte und unbetonte Silben machen. Dann erhalte ich einen »Metrik-Index«, der etwa für Byrons Elegien viermal so hoch ist wie für Eliots »Cocktail Party«, für die »Divina Commedia« aber etwas geringer.
Da wird Unvergleichbares verglichen, ohne daß mit dem Ergebnis etwas anzufangen wäre. Je nach der Versart, zum Beispiel jambischer oder daktylischer Vers, muß die Indexzahl notwendig variieren. Außerdem, und das ist überhaupt nicht berücksichtigt, unterscheidet sich etwa der spanische Vers vom italienischen und französischen durch seine deutlichen Akzente, wobei dann wieder ein Unterschied zwischen Wortakzent und Versakzent auftreten kann. Und im Deutschen? Der Jambus soll streng alternierend sein. Aber Ist er es? Und wenn er es nicht ist? Wenn der jeweils vom Leser intendierte Sinn die unterschiedlichsten Betonungen ermöglicht? Dann spiegelt der angeblich objektive »Metrik-Index« nichts weiter als subjektive Entscheidungen wider. Bei der »Divina Commedia« ist das Verfahren schon deswegen nutzlos, weil die Abfolge von betonten und unbetonten Silben überhaupt keine Rolle für die Rhythmisierung spielt.
Die Methode von Fucks, soviel mathematische Intelligenz er an seine Arbeit gewandt hat, ist simpel. Für ihn sind Texte geordnete Elementenmengen, wobei er die Silbe mit dem Atom, das Wort mit dem Molekül vergleicht. Er erhält Ergebnisse, mit denen er selbst nichts anzufangen weiß, hofft aber, daß die Literaturwissenschaft ihm Antwort geben wird. Die Fragen freilich, die sie selbst stellt oder selbst stellen sollte, zielen auf anderes, auf die Inhalte und deren Wirkungen. Die aber lassen sich weder durch einen Index noch eine Matrix angeben.
Das Buch kommt zu spät, um Jahrzehnte. Es hält sich ans gängigste Vokabular, weiß immer noch zwischen Dichtern und Schriftstellern, zwischen hoher und niederer Literatur zu unterscheiden, ist aus auf Rang und Wert und scheint mehr hindiktiert als geschrieben. Es wimmelt von Wiederholungen immer derselben Sache, erläutert jede Graphik einmal in einer Abbildungserklärung und zum zweitenmal mit fast den gleichen Worten im Text, ist zwar nicht frei von Pädagogik, formuliert aber ein wenig kindlich: »Die Entropie ist in gewissem Sinne ein Bruder der Energie, wenn auch ein sehr ungleicher Bruder, also vielleicht eher eine Schwester.« Dafür hat es, was es brauchte, kein Register.
Manches hat mit den »Regeln der Kunst« weniger zu tun als mit einer Einführung in die Methoden der Statistik, wie die Regierungszeiten der Päpste oder der deutschen Herrscher; manches hat Hobbycharakter, wie der »Seitenblick auf die europäische Geschichtsphilosophie« oder das Plädoyer für die chinesische Sprache.
Immerhin, das Kapitel über »Literarische Kriminalistik«, das sich mit Zuschreibungsfragen beschäftigt, und zwar für einige Texte des Neuen Testaments, ist lesenswert, weil es zeigt, was mit dieser Methode möglich und was unmöglich ist. Sie kann dazu dienen, Unterschiede oder Gemeinsamkeiten festzustellen, von denen man allerdings nicht weiß, ob sie konstituierend sind; sie kann erweisen, daß Ganghofer den »Doktor Faustus« nicht hätte schreiben können, aber sie kann eben nicht erweisen, daß der Autor des Johannes-Evangeliums und der Apokalypse identisch sind. Es wäre auch gleichgültig. Nicht wer etwas geschrieben hat, interessiert uns, sondern daß es geschrieben worden ist, und mit welchen Folgen.