Fotografen über das Bild ihres Lebens »Der Schatten sah wie der eines Erhängten aus«

Einer verarbeitete den Suizid seines Schwagers, eine lichtete den Klimawandel ab – und eine hielt eine sexuelle Begegnung fest, die sie verstörte. Hier sprechen drei Fotografen über ihre wichtigsten Arbeiten.
Bild von Yael Martinez: »Ich sah neben dem Leben auch den Tod«

Bild von Yael Martinez: »Ich sah neben dem Leben auch den Tod«

Foto: Yael Martinez / Magnum Photos

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Auf der Berlin Photo Week  vom 2. bis 9. September feiert die Agentur Magnum ihren 75. Geburtstag, unter anderen mit einer Bilderauswahl aus der Agenturgeschichte. Der SPIEGEL ist in diesem Jahr Kooperationspartner und veranstaltet in dieser Eigenschaft am Samstag, 3. September eine Reihe von Talks  mit Magnum-Fotografen. Hier sprechen drei von ihnen über das Bild ihres Lebens.

»Die Gewalt bleibt im Haus« – Yael Martinez, Mexiko

Allein im vergangenen Jahr zählte man fast 100.000 Menschen, die in Mexiko verschwanden und die nie wieder oder etwa in Massengräbern auftauchen. Ich lebe in der Stadt Taxco, ungefähr vier Autostunden von Mexico City. Im Jahr 2013 verloren wir drei Familienmitglieder – allesamt Schwager von mir und alle erst zwischen 18 und 23 Jahre alt. Einer von ihnen war Polizist, ein anderer hatte mit Drogen zu tun. Die beiden verschwanden spurlos. Der Dritte musste ins Gefängnis, als man ihn zuvor mit Drogen und Waffen erwischt hatte. Er erhängte sich in Haft.

Das Foto zeigt meine kleine Tochter und mich. Als ich sie eines Tages in den Kindergarten bringen wollte, wirkte sie sehr verstört. Ich fragte sie, was los sei. Sie antwortete, sie habe einen Alptraum gehabt, in dem sie in ein dunkles Loch gefallen war und in dem sie niemand auffing. Ich merkte, dass sich die ganze Gewalt, von der wir umgeben waren, auch auf meine Tochter auswirkte.

Ich bat sie, dasselbe Bild und das Gefühl das Traums gemeinsam nachzustellen – nur war ich in diesem Szenario da, um sie zu fangen. Ich stellte ein Stativ auf, warf sie hoch und bat sie, sich so zu bewegen, dass der Schatten, den sie an die Wand projizierte, wie der eines Erhängten aussah. Wir brauchten ungefähr zehn Anläufe. Meine Tochter genoss den Moment. Gleichzeitig sah ich neben dem Leben auch den Tod. Für mich war der Moment ein Ritual, um das Narrativ im Gedächtnis meines Kindes zu verändern.

Ich versuchte, andere Familien zu besuchen und zu fotografieren, deren Angehörigen ebenfalls verschwanden. Ich begann, auch ihre Realität zu verstehen. Wenn jemand verschwindet, dann bleibt die Gewalt im Haus. Sie bleibt für immer. Ich habe mein Projekt »La casa que sangra« genannt, »Das Haus, das blutet«.

»Ich finde dieses Bild irgendwie verstörend« – Bieke Depoorter, Niederlande

Foto: Bieke Depoorter / Magnum Photos

Ich mag dieses Bild nicht wirklich, ich finde es irgendwie verstörend. Es zeigt Agata Kay, eine Künstlerin, Schriftstellerin und frühere Sexworkerin, und einen Friseur, den wir auf einer gemeinsamen Reise in Beirut auf der Straße trafen. Er war kein Freier von Kay – einfach irgendein Typ. Er lud uns, nachdem wir etwas Whiskey getrunken hatten, in seine Wohnung ein, damit wir unsere Haarschnitte genauer betrachten könnten. Sofort begannen die beiden, rumzumachen.

Wenn du als Fotografin an einen Ort gehst, wo etwas passiert, dann musst du dich schnell entscheiden. Als ich ins Schlafzimmer trat, stellte ich mich sofort in die Ecke hinter dem Bett. Vielleicht wollte ich möglichst weit weg vom Geschehen sein, vielleicht tat ich es aus strategischen Gründen. Ich war aufgeregt und fasziniert von der Situation. Es war zugleich ein sehr unangenehmer Moment, weil ich mir nicht sicher war, ob die beiden das nur für mich taten, oder ob sie das wirklich wollten. Der sexuelle Appetit des Mannes stieß mich ab. Ich war verwirrt von Kay, die in die Kamera schaute und mich fragte: »Hast du das Bild?«

Das Bild ist Teil meines Buchs »Agata«. Ich lernte sie 2017 in einer Strip-Bar in Paris kennen und von da an begannen wir, zusammenzuarbeiten. Ich dachte, ich würde nur ein einziges Bild von ihr machen, aber es gab da diese kreative Energie und Spannung zwischen uns. Am Ende arbeiteten wir drei Jahre zusammen, es entstand ein großes Projekt über Repräsentation, meine Verantwortung als Fotografin, über Grenzen und deren Überschreitung, über Sexualität und Wahrheit. Zugleich wollten wir gemeinsam Kays Identität finden. Am Anfang wollte ich verheimlichen, dass sie eine Sexarbeiterin war. Ich wollte zeigen, wer sie wirklich ist, aber Agata war einfach nur enttäuscht von der Tatsache, dass ich diesen Teil von ihr nicht darstellen wollte.

Der Moment, der auf dem Bild eingefangen ist, brachte mich dazu, über die Rolle der Fotografie nachzudenken. Welche Geschichte möchte ich erzählen und welche die Fotografierte? Warum ich dieses Bild nicht mag, hat vielleicht auch etwas mit Schuld zu tun. Vielleicht tat Kay etwas, weil sie dachte, dass ich es sehen wollte? Wir verließen Beirut so ziemlich am nächsten Tag. Bald darauf stellten wir zum ersten Mal unsere Bilder aus.

»Die Insekten attackieren in Schwärmen« – Nanna Heitmann, Deutschland

Foto: Nanna Heitmann / Magnum Photos

Jakutien liegt im russischen Sibirien und gilt als einer der kältesten Orte der Welt. Im Winter gibt es dort Rekordtemperaturen von minus 60 Grad Celsius. Im vergangenen Jahr wüteten dort aber schlimme Waldbrände. Es war mit Temperaturen untertags von bis zu 38 Grad einer der heißesten Sommer, den es in einem arktischen Gebiet bisher gegeben hatte. Für einen geförderten Aufenthalt war ich vor Ort, mit einem Reporter der »New York Times« begleitete ich Feuerwehrleute und Zivilisten auf ihren Einsätzen.

Auf dem Bild sieht man einen Jakuten. Nachts sind wir mit mehreren Leuten aus einem Dorf in der Nähe der Hauptstadt Jakutsk aufgebrochen und zu einem Waldbrand gefahren. Der Mann steht auf einem LKW und füllt Wasser aus einem See in den Löschtank des Wagens. Der Boden unter den Wäldern ist unter normalen Umständen ein nie vollständig auftauender Permafrost. Durch den Klimawandel bildeten sich Tausende von kleinen Seen und Tümpeln. Die Waldbrände verschlimmerten dieses Phänomen. In einem dieser geschmolzenen Becken sammelt der Feuerwehrmann das Wasser auf. Seine Kleidung trägt er nicht, weil es etwa kalt ist, sondern zum Schutz vor den Mücken. Die Insekten krabbeln sonst überall hin, attackieren in Schwärmen. Zugleich sind viele Libellen unterwegs, die versuchen, diese Mücken zu fangen.

Die Brände werden vor allem nachts gelöscht, wenn man das Feuer erkennen kann, das tagsüber von Rauch verdeckt ist. Die Leute sagen: »Das Feuer schläft«. Oft gehen sie zu Fuß zu den Brandstellen und versuchen mit Rucksäcken, die mit Wasser beladen sind, das Feuer einzukesseln. In Jakutien herrschte zu dieser Zeit Unmut über den Umgang der Behörden mit den Waldbränden. Russland hatte Löschflugzeuge in die Türkei und zu den dortigen Feuern geschickt, während in Jakutien viele Freiwillige durch den Wald zogen. Nach der medialen Aufmerksamkeit änderte sich die Lage und die Regierung schickte Löschflugzeuge.

Protokolle: Benjamin Stolz

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