Schon gegen Mitternacht ist klar, daß Tracie den Wettbewerb gewinnen wird, hier, auf der schäbigen Lower East Side Manhattans, im »Nuyorican Poets Cafe«, das so anziehend ist wie ein Kabarettbunker kurz nach dem Krieg.
Selbst die Trinker am Tresen sind jetzt ruhig, und alle lassen sich von Tracies Sprechgesang treiben, der Jazzer Tyrone aus der Nachbarschaft ebenso wie Klaus Pohl, das deutsche Multi-Genie, und Ina Brox, die blonde Saxophonistin, und rund 200 weitere Nachtschwärmer, die dieses »Poetry Slam« jeden Freitag auf die Beine bringt.
Tracie spricht über die Hitze und über die Basketballplätze der Nachbarschaft, über den neuen Ghettoblaster ihres Freundes und über das, was er alles nicht kann im Bett, aber zu können meint, und sie dirigiert mit langgliedrigen Händen ihr eigenes Hip-Hop-Gedicht, das Witz hat und Melodie und gar nicht aufhören möchte. Tracie erhält von den Juroren aus dem Publikum zweimal die 9,1 und einmal die 9,5. Der vierte gibt ihr nur die 8,5 und wird dafür beschimpft von Bob Holman, dem Zeremonienmeister.
Doch Tracie liegt ohnehin weit vorn. Sie tritt gegen Edwin Torres und dessen Lautgedichte an und gegen den dunklen Prinzen Jim, der seine Freundin in Reimen beschimpft. Tracie kämpft gegen Rosengedichte und Liebesgedichte und Einsamkeitsgedichte; um drei Uhr morgens, nach der letzten Runde, hat sie tatsächlich gewonnen, und sie nimmt diesen Sieg am allerwenigsten ernst. »Schließlich geht es um Kunst«, sagt sie, »und nicht um Sport.«
Es geht um beides. Es ist Kunst und Sport und die neueste, heißeste Mode der MTV-Kultur: Dichtung. Spätestens seit das Modehaus GAP bei dem Poeten Max Blagg eine Ode an die Blue jeans in Auftrag gab, ist Dichtung in den Szene-Cafes von New York, San Francisco oder Boston »in« - wo einer auf der Bühne steht und deklamiert, ist das Haus voll.
Auf den ersten, flüchtigen Blick erinnern die jungen Wortkünstler an die Beatniks der späten vierziger Jahre. Damals brach eine neue, mitteilungssüchtige, ekstatische Generation auf, die Welt zu entdecken und das Leben zu feiern. Damals suchten Allen Ginsberg und William Burroughs und Jack Kerouac nach einer Sprache, die das Äquivalent für Bebop und Drogen sein sollte.
Die Enkelgeneration aber hat ein Problem: Ihre Produktionsbedingungen sind anders. Die neuen Beatniks sind ja längst von einer mitteilungssüchtigen, ekstatischen, ewig neue Trends aufspürenden Jugendkultur umgeben. Allen Ginsbergs »Howl« ist nicht mehr der singuläre Verzückungsschrei, das zerreißende Schmerzensgeheul in einer frigiden Nachkriegsumgebung, sondern bildet in unzähligen Variationen den Dauerreiz der Popkultur, eine Art Muzak für die Sprücheklopfer der Werbung. Alle heulen - wie fällt man da noch auf?
Dennoch gibt es eigenwillige, neue Stimmen, und viele davon gehören schwarzen Künstlern. Mit dem Hip-Hop war zu Beginn der Reagan-Ära in den Ghettos eine neue Kultur, ein neues Identifikationssystem entstanden, zu dem auch die radikalen Sprechgesänge des Rap zählten. Diese neue orale Kultur war zwar anfällig für rassistische Vergröberungen, doch sie hatte Kraft.
Diese Kraft ist spürbar in den Gedichten von Tracie Morris, und die schwarze Künstlerin ist geistesgegenwärtig genug, auch die Vermarktungen der neuen Lyrikwelle zum Thema zu machen; ihr Gedichtzyklus »Die Szene (Schlange im Fez Pit)« macht sich lustig über ihren Arbeitsplatz - das »Fez«, ein neuer Klub in Downtown: »Jeder, der einen neuen Stil hat / hey, ich bin scharf auf sein Aroma / ich bin zu faul, mir meinen eigenen Scheiß auszudenken / plus es hilft mir, Kohle zu machen.«
Tracie Morris hält es denn auch für rassistisch, wenn die neue »spoken word«-Bewegung lediglich am Beat-Movement gemessen werde: »Wir haben eigene lyrische Konventionen entwickelt, die nichts mit den Beats zu tun haben«, und natürlich meint sie die weißen Beats, diese gefallenen Engel des weißen Mittelstandes. Tracie Morris: »Wir müssen uns auf unseren Kern besinnen, damit nicht alles in einem großen Ausverkauf landet.«
Doch ohne Reverenzen an die großen Vorgänger kommt die neue Bewegung nicht aus, und als Allen Ginsberg im »Bottom Line« liest und die Eintrittskarte 15 Dollar kostet, ist der Laden ausverkauft. Es ist keine Nostalgie-Veranstaltung an diesem Abend; es ist, als entdecke eine neue Generation Gefährten aus einer vergleichbaren Übergangszeit.
Schwer zu unterscheiden manchmal, ob dieses Interesse mehr bedeutet als das an einem neuen Kostümspiel. Auch die Autoren selbst sind sich nicht sicher: Das Video für die Debüt-Single der Rap-Gruppe Digable Planets beschwört die coole Jazzklub-Atmosphäre der Beatniks und streut lässig ein paar Heiligen-Namen aus den fünfziger Jahren ein: »Lay around and think, ain't nothing to do / checking out some Fromm, some Sartre, Camus.«
In Deutschland hat das Beat-Revival auf eine Gruppe ganz besondere Faszination ausgeübt. Auf eine Dichtergruppe, in der Posen und Poesie in einem bizarren Verwirrspiel ineinandergeschlungen waren - auf die sinistre, Stasi-belastete Szene vom Prenzlauer Berg. Hier, im mit ABM-Stellen und Senatsmitteln über Wasser gehaltenen Galrev-Verlag, wo der literarische Doppelagent Sascha Anderson mittlerweile wieder den Ton angibt, erscheint »SLAM! POETRY - Heftige Dichtung aus Amerika«.
Der Berliner Dichter Bert Papenfuß-Gorek hat das Nachwort des New Yorker Dichters Alan Kaufman übersetzt, der plötzlich sehr nach Prenzlauer Berg klingt: »Als Gruppe sind wir multikulturell in der Zusammensetzung, antifaschistisch im Auftreten und somit repräsentativ . . .« Und auch der Rest wirkt verblüffend vertraut: »Wir haben eine Anzahl Bücher in Kleinverlagen veröffentlicht, die unter unseresgleichen und unseren Verehrern von Hand zu Hand und Küste zu Küste weitergegeben werden.«
Die Verehrer können sich nun austauschen. In der Berliner »Literatur-WERKstatt« treffen sie sich in diesen Tagen, die Vertreter des amerikanischen Beat-Revivals und des deutschen Politik-Survivals - auf Einladung der Prenzlauer lesen Alan Kaufman, Paul Beatty und Patricia Smith Gedichte.
Es sind Gedichte, die, so Kaufman/ Gorek pathetisch, »den tödlichen Schleier aus Angst und Schweigen zerreißen, der sich über Amerika gelegt hat«. Am Prenzlauer Berg hört man viel lieber Amerikas Schleier reißen als die eigenen, und wenn sie auch noch auf englisch reißen, dann klingt darin das ferne Echo von Angela Davis und Weltjugendfestspielen und subversiver Popmusik im Radio.
Natürlich läßt sich die neue poetische Offensive nicht auf den Trotzkern jener Befreiungslyrik reduzieren, wie sie von jenen Dichtern, die derzeit auf Deutschlandtournee sind, repräsentiert wird.
Die neue Bewegung umarmt alle, die Afro-Zentristin Tracie Morris genauso wie den verspielten weißen Bohemien Edwin Torres oder Tom Savage und Indigo und Kathy Ebel, die ihre Verse auf türkisfarbenen Faltzetteln, welche sie »Cocodrilo« nennen, unter die Leute bringen.
Sicher, da sind die langweiligen, triumphierenden Kanzelreden der drei großen Religionen politischer Korrektheit: schwarze, schwule oder feministische Kämpferromantik.
Doch dazwischen immer wieder merkwürdige Flaschenpost; tastende und verrückte, scheue und riskante Versuche, individuelle Erfahrungen zu formulieren, einen neuen Weg zu finden hinüber in eine neue Zeit und ein neues Zusammenleben. In eine Zeit, in der die Wirklichkeit wieder zurückkehrt aus den Fernsehern. Eine Zeit, in der Familien sich auflösen, die Gewalt in den Städten explodiert und Liebesgeschichten mit den Worten »I think« beginnen.
Soviel ist den meisten dieser poetischen Freibeuter klar: Die zurückliegende Dekade war nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine intellektuelle und moralische Katastrophe.
Sie war es etwa für Poeten wie Mike Tyler: »Am i saying reagan was our hitler / no but i thinking it - sage ich, daß Reagan unser Hitler war / nein, aber ich denke es.« Tyler ist 30. Er glaubt, daß er die erfolgsgeile, glattpolierte Ich-Dekade unbeschädigt überstanden hat. »Für denjenigen, der sie ignoriert hat, haben die achtziger Jahre nicht gezählt.«
Das heißt nicht, daß Tyler abgetaucht wäre, um sein Scheitern zu romantisieren. Nein, er verdient sein Geld als Computerfachmann, und er hält die Allüre des Außenseiters für lächerlich. Er will nicht die windstillen Winkel einer Boheme, die sich selbst genügt - Tyler will mit Lyrik die Welt verändern. Ausverkaufte Lesungen im Madison Square Garden, das wäre ein Anfang!
Für ihre Machtergreifung trainieren die Poeten vorerst im »Nuyorican Poets Cafe«, wo der schwarzlockige Edwin Torres sich darüber aufregen muß, daß Newsweek ihn in einer Geschichte zum Beat-Revival abgebildet hat, ohne seinen Namen zu nennen.
Die wahre Bewährungsprobe jedoch für ihn kommt zwei Wochen später. Da prangt er auf dem Titelbild des Magazins New York. Und er wird mit Namen genannt - und ist plötzlich berühmt.
*VITA-KASTEN-1 *ÜBERSCHRIFT:
Die Beatniks *
waren Amerikas Antwort auf den französischen Existentialismus: In den fünfziger Jahren entdeckten junge Dichter wie Jack Kerouac, Allen Ginsberg und Paul Goodman ihr Leiden an der uniformierten Gesellschaft, der kommerzialisierten Kunst und der Sinnlosigkeit allen Strebens; allenfalls für Jazz, Sex und Drogen konnten sie sich begeistern, und davon handelten auch ihre Bücher. Das Manifest des »Beat Movement« war Ginsbergs Gedicht »Howl« (1956); das erfolgreichste Werk ist Kerouacs Roman »On the Road« (1957).