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Franz Alt über Heinrich Geißler: "Die Neue Soziale Frage' Freiheit für wen, für was?

Von Franz Alt
aus DER SPIEGEL 30/1976

Dr. Franz Alt 38, CDU-Mitglied, ist als Moderator des Südwestfunk-Fernsehmagazins »Report« bekannt geworden. D je katholische Soziallehre sei tot,

hatte ihr hierzulande bedeutendster Vertreter, Oswald von Nell-Breuning, vor einigen Jahren verkündet. Jetzt feiert sie Auferstehung, gibt zumindest erste Lebenszeichen von sich. Für das »Wunder« ist Heinrich Geißler, Kohls rheinland-pfälzischer Sozialminister, verantwortlich. Seine »Neue Soziale Frage« erscheint zu einer Zeit. in der sich von rechts her Strauß und Schmidt über das Thema lustig machen. Hier wird das eherne Gesetz bundesdeutscher Wahlkämpfe wieder deutlich: Die Rechten in allen Lagern geben den Ton an, die Mitte ist sprachlos, und die Linken glauben, aus taktischen Gründen schweigen zu sollen.

1975 war die Neue Soziale Frage das Thema der CDU. Im Wahljahr 1976, wo's zum Schwur kommt, ist das Thema schon wieder verdrängt. Matthias Wissmann hat das offenbar so kommen sehen, als er im November 1975 seine Junge Union davor warnte, die Neue Soziale Frage als Sozialkosmetik mißzuverstehen. Geißler muß jetzt mit seinem Buch die Todsünde der Politik bekämpfen: die Vergeßlichkeit.

Aber im Wahlkampf '76 gibt es offensichtlich keine Christen und keine Sozialisten. Wir sind ein Volk von »Liberalen«, das am 3. Oktober zu 9(1 Prozent CDU/CSU und SPD wählen wird. Da alle liberal sein wollen, gibt es auch beinahe keinen Liberalismus mehr. Diese Liberalismus-Inflation ist der auffallendste Hinweis für die Wertdefizite deutscher Politik. Wertdefizit: Das ist die exakte Beschreibung des wertneutralen Liberalismus-Chic »76 -- »Ideologie« der Ideologie-Gegner. Umworben wird von allen Seiten der »liberale« Wechselwähler, sozusagen die Luxusausgabe des Normalwählers. Alle rufen Freiheit, aber kaum einer stellt die Gretchenfrage: Freiheit für wen und Freiheit für was? Die SPD tabuiert ihren Sozialismus. die CDU privatisiert ihr »C« und degradiert es so zur Herzensangelegenheit für den Sonntagmorgen --

Die dem Christentum (zumindest nach der Bergpredigt) inhärente gesellschaftspolitische Schubkraft wird nicht wirksam. Die Konsequenz einer christlichen Orthodoxie müßte politische Orthopraxie sein. Daß »im Christentum Gottesliebe und Nächstenliebe immer zusammengehören« (Konrad Adenauer 1922 als Präsident des Katholikentages). wird in Adenauers Partei 1976 weitgehend übersehen. Die Theologie des Privaten verdrängt beinahe jeden Ansatz einer politischen Theologie. Der Slogan »Freiheit statt Sozialismus« ist schon deshalb für die CDU selbst gefährlich, weil er ihr eine Abgrenzung gegenüber dem Kapitalismus erschwert. Und christliche Demokraten meinten nach 1945 doch einen »Dritten Weg«, und der heißt immer auch Kapitalismuskritik.

Damit ich nicht ungerecht werde: Sowohl Richard von Weizsäckers Grundsatzprogramm-Entwurf wie Geißlers »Neue Soziale Frage« knüpfen an die Gründungsideen der CDU-Väter wieder an. Geißler hat den Mut. sich der Liberalismus-Lotterie zu verweigern: »Die Neue Soziale Frage ist keine Frage der Technik, sondern zuerst eine des geänderten Bewußtseins und des politischen Mutes.« Um was geht es?

Der CDU-Politiker wirft der Bonner Regierung vor, sie klammere sich an die »Alte Soziale Frage«. Das sei eine Verkürzung der heutigen sozialen Probleme auf den klassischen Konflikt Kapital/Arbeit. Aber: »Sozialpolitik ist mehr als Arbeitnehmerpolitik.« Eindimensionale Versuche, die alten Probleme zu lösen, haben erst die neuen Probleme geschaffen. Nach Geißler hat Glück, wer Mitglied einer starken Organisation ist. Wer aber macht Politik für die Schwachen, die Randgruppen. die Nichtorganisierten, die Nichtorganisierbaren? Des engagierten katholischen Sozialpolitikers Neue Soziale Frage auf eine Formel gebracht, heißt: Caritas ist gut, aber sie reicht nicht -für die Schwächsten der Gesellschaft muß man Politik machen. Bisher galt: Wer protestiert, wird materiell befriedigt. Und die nicht protestieren?

Geißlers Theorie findet man plötzlich in Kohls Wahlreden wieder: Die CDU als Anwalt der Schwachen und des Mittelstandes; für Schmidt bleiben die Gewerkschaften und die Großindustrie, also Exponenten der »Alten Sozialen Frage«. Geißlers empirischer Beweis: Sechs Millionen Arme in der Bundesrepublik, das heißt sechs Millionen Bürger mit einem Einkommen unter dem Sozialhilfe-Niveau. Beispiele: Mehrere Hunderttausende Arbeiterwitwen mit einem durchschnittlichen Monatseinkommen von 436 Mark. ebenso mehr als zwei Millionen Rentner. Hinzu kommt, daß nur jeder siebte Sozialhilfeberechtigte auch Sozialhilfe in Anspruch nimmt. Armut im Wohlstand existiert meist versteckt und verschämt. Merkmale einer neuen Armut sind: weibliches Geschlecht, Alter und Kinderreichtum.

Geißlers Armutsdefinition ist umstritten. Armut bezogen auf unser Sozialhilfe-Niveau ist sicher relativ. Dennoch: Relative Armut in einem reichen Land ist härter als Armut in einem armen Land. »Kein Bürger in der Bundesrepublik ist heute deshalb arm, nur weil er Arbeiter ist, sondern er ist zum Beispiel arm, wenn er Arbeiter ist und Kinder hat oder alt geworden ist oder unter die Leichtlohngruppen fällt. Das sind neue soziale Fragen.«

Eine Sozialpolitik. die bisher vielen etwas brachte, ist tatsächlich in Gefahr. gegenüber Minderheiten unempfindlich zu werden. Gewerkschaften unterschätzen zum Beispiel offensichtlich die Gefahr. in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit eine Tarifpolitik zu Gunsten arbeitender Arbeitnehmer auf Kosten arbeitsloser zu betreiben. Neue Soziale Frage hieße hier: Schärfung gewerkschaftlichen Gewissens. Die Neue ist sicher auch die Alte Soziale Frage. aber nicht nur. Geißler nennt die neuen Problemfelder: Doppel- und Dreifachbelastung vieler Frauen. Wahrung der Menschenwürde im Alter, Situation der Gastarbeiter, neue Probleme für Kinder in einer Welt der Erwachsenen.

Die Zahl dieser »Randgruppen« wird immer größer -- 1976 leben etwa viermal soviel über 65jährige Mitbürger wie vor 150 Jahren. Seit die Leistung zum Haupt-Platzanweiser in der Gesellschaft wurde, verschärft sich der Konflikt zwischen Produzenten und Nichtproduzenten, denn deren Zahl hat die der Produzenten längst überschritten. Eine ökonomische Leistungsgesellschaft ist immer in Gefahr, zu einer »Geschlossenen Gesellschaft für Berufstätige« zu werden. Daraus resultiert die Diskriminierung der Mutter und Hausfrau zur sogenannten Nur-Hausfrau ebenso wie der Generationenkonflikt. Die Grenzen des Wachstums kündigen härtere Verteilungskämpfe an. Wehe den Nichtorganisierten unter den Unterprivilegierten!

Die Neue Soziale Frage verlangt eine differenzierte Sozialpolitik. Die Probleme alleinstehender Mütter im Leichtlohntarif sind sicher schwieriger als die der meisten Industriearbeiter. Die Doppelbelastung einer berufstätigen Mutter hat schon heute zu einer um fünf Jahre geringeren Lebenserwartung als die ihres Mannes geführt. Die Neue Soziale Frage macht das Alter zum Politikum. Geißlers Zahlen und Thesen belegen die Notwendigkeit, Randgruppen ins Zentrum der Politik zu holen. Sein Buch ist der Versuch eines Einzelkämpfers, sozialethische Fragen im Wahlkampf nicht auszulassen.

Der Autor fordert eine staatliche, aber auch eine persönliche Strategie der Sensibilisierung, das »Denken in Alternativen«. Konkret: »Ist es nicht menschlicher und ökonomischer, Müttern zum Beispiel durch das Erziehungsgeld zu ermöglichen, in den ersten Lebensjahren sich um ihr Kind zu kümmern, als sie aus wirtschaftlichen Gründen zur Erwerbstätigkeit zu zwingen und für die Erziehung des Kleinkindes teure staatlich geförderte Institutionen und hochbezahlte Fachkräfte zu unterhalten und anschließend über lange Jahre die möglichen Folgeschäden dieser Erziehung in noch teureren therapeutischen Einrichtungen zu heilen zu versuchen?«

Geißlers Buch befriedigt nicht das Bedürfnis nach Patentrezepten in der Sozialpolitik, aber es ist eine Kampfansage gegen die Imponier-Ideologien unserer Zeit: gegen Sozialismus und Kapitalismus. Zwischen diesen beiden Ismen wird hier in Umrissen ein Dritter Weg deutlich: Freiheit und Gerechtigkeit nicht als Gegensatz, sondern als Ergänzung, Freiheit nicht mehr als das Recht des Stärkeren, sondern immer als verantwortete Freiheit. Geißler zeigt seiner Partei auch die Alternative zum »Freiheit statt Sozialismus«-Slogan: Sozial statt sozialistisch. Der Autor ist Exponent der »anderen CDU«.

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