GESELLSCHAFT Freiheit zum Tod
Die Lebensmüde, eine Düsseldorfer Hausfrau, schloß die Fenstervorhänge, schob ein paar Sessel vor die Wohnzimmertür und löschte das elektrische Licht. Im Halbdunkel, bei Kerzenschein, kippte sie 40 Schlaftabletten in ein randvolles Whiskyglas und trank die Mixtur.
Dann legte sie eine Schallplatte auf und verlor, umrauscht von den Klangwogen der 8. Symphonie Gustav Mahlers, sacht die Besinnung.
Doch die sorgfältig arrangierte Sterbeszene mißlang. Drei Stunden später erwachte die Freitod-Kandidatin auf einer Intensivstation. Ihr Protest gegen die Wiederbelebung erstickte unter der Sauerstoffmaske. Die Ärzte, geschäftig und zufrieden, verbuchten einen Erfolg.
Sie absolvierten eine Rettungsaktion, die in der Bundesrepublik wie in den übrigen Industrieländern längst zu den ärztlichen Routineaufgaben zählt: Nahezu 14 000 Westdeutsche, im Durchschnitt täglich 38 Männer, Frauen und Jugendliche, begingen 1977 Selbstmord. Mindestens 100 000 weitere überlebten im letzten Jahr einen Selbstmordversuch, manche durch Zufall oder weil sie nur halbherzig zur Tat schritten, andere dank rechtzeitiger ärztlicher Hilfe.
Daß sich viele, die gerettet wurden, wie die Hausfrau aus Düsseldorf nur widerstrebend ins Leben zurückholen ließen, nahmen die Mediziner in Kauf; intensiv bemühten sie sich auch um Patienten, die durch wiederholte Suizidversuche ihren Entschluß zu sterben bekräftigt hatten -- Mangel an ärztlichem Respekt vor der Freiheit zum Tode?
Die Antwort ist neuerdings umstritten. Zwar, bislang halten es die Mediziner durchweg für ihre Berufspflicht, Lebensmüde unter allen Umständen vor dem Tod zu bewahren: Lebensüberdruß, so die Lehrmeinung der Suizid-Experten, beruhe fast immer auf einem Psycho-Defekt, der letztlich den freien Entschluß zum Selbstmord gar nicht zulasse.
Doch unlängst, auf der 5. Jahrestagung der »Deutschen Gesellschaft für Selbstmordverhütung« in Hamburg, zeigte sich, daß namhafte Fachleute begonnen haben, die bislang kaum angefochtene These vom Suizid als Zwangshandlung genauer zu differenzieren.
Durchaus nicht jede Selbsttötung, meinte etwa der Göttinger Medizin-Professor Hermann Pohlmeier, sei eindeutig Folge einer Sinnesverwirrung. Deshalb gelte es bei der Selbstmordverhütung, mehr als bisher »die Freiheit und Würde des anderen zu respektieren« -- es müsse, so Pohlmeier, den Medizinern erlaubt sein, zuweilen »auch in Ruhe jemanden seinen Tod sterben zu lassen«.
Was die Selbstmordforscher, Suizidologen genannt, in letzter Zeit verunsichert hat, geht aus den Hamburger Tagungsreferaten hervor, die unter dem Titel »Selbstmordverhütung -- Anmaßung oder Verpflichtung« soeben im Bonner Keil-Verlag als Buch erschienen sind**.
In dem Sammelband setzen sich die Experten nicht nur mit den jüngsten, politisch motivierten Selbstmorden in Ost und West auseinander, etwa mit dem Freitod Ulrike Meinhofs oder mit der Selbstverbrennung des DDR-Pfarrers Oskar Brüsewitz; sie beschäftigen sich darin vor allem mit den Attacken des philosophischen Schriftstellers Jean Améry, der 1976 in einem wortgewaltigen Essay (Titel: »Hand an sich legen") die berufsmäßige Suizidbekämpfung als zudringlich und »unverschämt« angeprangert hatte.
»Der Hang zum Freitod«, so hatte Améry den Medizinern vorgehalten, »ist keine Krankheit, von der man geheilt werden muß wie von den Masern« -erbittert streitet er gegen den »höchst abstoßenden Berufsehrgeiz der Ärzte«, die »mit ihren scheußlichen Apparaturen« partout jeden Lebensmüden »dem Tode abjagen« wollten.
Nirgendwo, behauptet er, manifestiere sich Freiheit so überzeugend wie in der spezifisch menschlichen Fähigkeit, dem eigenen Dasein selber ein Ende zu setzen: Vom Selbstmord bei Tieren, Schwachsinnigen oder auch Kleinkindern sei noch nie berichtet worden.
Offenkundig hat Amérys vehementer Angriff die Selbstmordforscher stark irritiert. Lange genug hatten sich die Pioniere der wissenschaftlich fundierten Suizidverhütung darum bemüht, den Lebensmüden einen allgemein anerkannten Patienten-Status zu verschaffen.
»Nur mit Hinweis auf ein Gesundheitsproblem«, so erinnert sich Professor Pohlmeier, habe schließlich in der Öffentlichkeit »Interesse an der Not der Lebensmüden geweckt werden können«. Noch bis in die Mitte dieses Jahrhunderts wurden Selbstmörder vielerorts in Europa nicht kirchlich bestattet, in Großbritannien gar galten Selbstmordversuche bis 1961 zumindest dem Gesetz nach als Straftat.
So glaubten denn die Ärzte bislang fest, der Humanität und dem Fortschritt zu dienen, wenn sie -- wie erst kürzlich US-Psychiater Professor George E. Murphy -- den Suizid in aller Regel als Symptom einer schweren seelischen Erkrankung definierten.
Anhand von umfangreichem Untersuchungsmaterial hatte Murphy nachzuweisen versucht, daß jeder zweite Selbstmordkandidat an einer klinischen Depression leide, jeder vierte alkoholkrank sei. Nur bei einem oder zwei von 100 Lebensmüden, so Murphy, lasse sich kein Krankheitssymptom feststellen.
Rund 50 Prozent aller vollendeten Selbstmorde, lautet Murphys Schlußfolgerung, könnten verhindert werden, wenn die Ärzte den Lebensüberdruß Suizidgefährdeter rechtzeitig erkennen und therapeutisch lindern würden.
Auch Professor Pohlmeier, derzeit Präsident der »Deutschen Gesellschaft für Selbstmordverhütung«, hatte bis vor wenigen Jahren entschieden die Auffassung vertreten, ein Suizid sei »in keinem Fall ohne Depression möglich«. Aber so strikt will er diese These nun nicht mehr gelten lassen.
Zwar meint er unverändert, daß die Mehrheit der »Suizidäre« in seelischer Bedrängnis und für Hilfe durchaus empfänglich sei -- rund 80 Prozent der überlebenden Suizid-Täter sind nachträglich mit ihrer Rettung einverstanden, nur jeder vierte wiederholt den Suizidversuch.
Dennoch, betont er, dürfe die Medizin bei der Suizidverhütung nicht auch jene Lebensmüden wie Neurotiker oder Psychopathen behandeln, die »um das Recht auf Selbstmord kämpfen wie andere um das Recht auf Leben": Er hält
* Auf dem Hochhaus des Europa-Centes. ** Hermann Pohlmeier (Herausgeber): »Selbstmordverhütung -- Anmaßung oder Verpflichtung«. Keil-Verlag, Bonn; 176 Seiten; 19,80 Mark.
es für »entwürdigend«, die Suizidneigung stets »zur Krankheit, ja zur Krankheit der Verblödung zu entwerten«.
Jedermann, urteilt der Göttinger Mediziner, habe letztlich »ein Recht auf sein Sterben«, auf den Freitod »zur Abwendung von Siechtum«, von »Versklavung oder einfach, weil er es so will« -- und dabei denkt Pohlmeier nicht allein an Greise oder Krebskranke, die ihren ohnehin nur noch kurzen, zudem qualvollen Lebensweg abkürzen wollen.
Vielmehr fordert er, daß auch in ganz anderen »Extremsituationen« der Suizid als frei gewählte Alternative akzeptiert werden müsse, etwa bei Ulrike Meinhof oder dem Generalfeldmarschall Erwin Rommel, der einem schmählichen Ende vor dem Volksgerichtshof das Gift vorgezogen habe.
Wer als des Teufels General oder auch als Untergrundkämpfer gescheitert sei und nun lieber sterben als weiterleben wolle, könne nicht kurzerhand zum »Medizinikum« erklärt werden, meint Pohlmeier: Überhaupt, findet er, solle sich die Selbstmordverhütung nicht mehr überwiegend »auf unsere fragwürdig gewordenen Begriffe von Krankheit oder Gesundheit« stützen, sondern lediglich sachkundige Lebenshilfe anbieten.
Damit deutet Pohlmeier einen Wandel im Urteil über den Suizid an. Er lockert vorsichtig jenes Tabu, das -- wie Kritiker Améry konstatiert hatte -- aller Aufklärung zum Trotz immer noch über den Selbstmord verhängt ist.
Daß die gesellschaftliche Ächtung des Selbstmords auf lange Sicht noch weiter schwinden dürfte, haben andere Forscher bereits angekündigt -- so der amerikanische Suizidologe Professor Robert Kastenbaum, der in der westlichen Welt überall Anzeichen für den wachsenden Wunsch nach einem »guten Tod« registriert haben will.
Das Verlangen, dereinst »mit Würde zu sterben«, bewegt laut Kastenbaum immer mehr Menschen, seit viele moribunde Kranke »durch die medizinische Technik unbegrenzt in einem Zwielicht zwischen Leben und Tod festgehalten werden«.
Bei so viel Fortschritt, schätzt Kastenbaum, könne der Suizid schon bald zur »bevorzugten Todesart« werden, weil er »Ort, Zeitpunkt, Dauer und Stil des Sterbens« der persönlichen Kontrolle eines jeden überlasse.
Für die Suizidologen, bislang ausschließlich mit der Selbstmordverhütung befaßt, werde es deshalb fortan möglicherweise zweierlei zu tun geben: Sie dürften, so Kastenbaum, weiterhin »das selbstzerstörerische Verhalten psychisch Kranker« zu heilen versuchen -- zudem aber auch die Aufgabe haben, »unter gewissen Umständen den selbstgewählten Tod durch die eigene Hand zu erleichtern«.