Cholera Fruchtbarer Boden
Häppchenweise wie einen Schwerkranken, der noch wenig über sein Leiden weiß, bereitet Brasiliens Regierung das Land auf eine beängstigende Zukunft vor. »Die Ankunft der Cholera«, warnte Gesundheitsminister Alceni Guerra Anfang März, »ist wohl unvermeidlich.«
Vergangene Woche legte sein Ministerium dann ein Schreckensszenario vor: Noch in diesem Jahr rechnet die Behörde mit drei Millionen Cholera-Kranken, jeder fünfzigste Brasilianer werde von dem tückischen Bakterium infiziert. Der erste Fall wurde vorigen Donnerstag bestätigt, sieben weitere Personen sind vermutlich infiziert.
Mit einer grotesken Penibilität, die Brasiliens Bürokraten von den portugiesischen Kolonisatoren geerbt haben, wagte das Ministerium sogar eine detaillierte Prognose: Demnach werde Rio de Janeiro von exakt 261 529 Cholera-Fällen heimgesucht. _(* Wäscherinnen bei Carajas im Norden ) _(Brasiliens. )
Die Katastrophenstimmung kam auf, nachdem die Seuche vorletzte Woche bei dem peruanischen Fischer Arnaldo Fernandez im kolumbianischen Grenzort Leticia entdeckt worden war. Noch ehe die Ärzte den Stuhlgang des Patienten untersuchten, waren die Abwässer des Krankenhauses in den Solimoes-Fluß eingeleitet worden, wie der Amazonas in diesem Abschnitt heißt.
550 Meter weiter flußabwärts versorgt sich die brasilianische Stadt Tabatinga mit Trinkwasser aus dem Strom, das ungechlort in die Haushalte gelangt. Jetzt, so schrieb die Zeitung Jornal do Brasil, leben die Bewohner in dem Dreiländereck »in Erwartung einer Katastrophe«.
In beängstigendem Tempo breitet sich die Cholera in Südamerika aus. Vor drei Monaten waren die tückischen Bakterien erstmals in der peruanischen Hafenstadt Chimbote am Pazifik aufgetaucht, nachdem sie den Kontinent fast ein Jahrhundert lang verschont hatten. Inzwischen überwand die tödliche Epidemie die Anden und erreichte die Amazonaswälder. Peru meldet bereits 145 000 Erkrankte und mehr als 1000 Tote, in Ecuador starben bislang 59 Menschen, in Kolumbien sind Hunderte infiziert. In Mittelamerika wird in den nächsten Wochen mit dem Ausbruch der Seuche gerechnet.
Schon in wenigen Monaten, vermutet der Cholera-Spezialist des Pariser Pasteur-Instituts, Professor Andre Dodin, »wird die Epidemie die Atlantikküste erreichen«.
Die ersten Todesopfer in Brasilien könnte die Seuche unter 20 000 Tukuna-Indianern nahe der Grenzstadt Tabatinga fordern. »Ihre Dörfer an den Flußrändern«, berichtet der Gesundheitsforscher Ulisses Confalonieri, »sind echte Favelas, in denen die primitivsten sanitären Einrichtungen fehlen.« Das einzige Krankenhaus der Region, ein Militärhospital, hat nur 80 Betten und werde, so fürchtet Confalonieri, andere Patienten den traditionell diskriminierten Indios vorziehen.
Auch völlig abgeschieden lebende Stämme sind akut gefährdet, da die im Amazonasgebiet herumziehenden Goldsucher, die berüchtigten »garimpeiros«, Reservatsgrenzen nicht beachten und schon früher oft Seuchen wie die Malaria einschleppten.
Ein in Grenznähe infizierter Reisender, befürchtet der Parlamentsabgeordnete und Gesundheitsexperte Sergio Arouca, werde dafür sorgen, daß die Cholera nicht nur »wie eine Welle langsam durch die Amazonasregion rollt«, sondern gleich »mit einem einzigen Satz« in die großen Ballungszentren an der Küste vordringe.
Wohlhabende Bürger in den Großstädten haben schon jetzt ihre Hausangestellten losgeschickt, um Mineralwasser zu horten. Trotzdem »wird der Erreger als Folge der völlig verfehlten Sozialpolitik überall auf fruchtbaren Boden fallen«, prophezeit Arouca - in Recife und Salvador, in Sao Paulo und Rio de Janeiro.
Denn die Abwässer von 60 Millionen Brasilianern werden nicht entsorgt, der Müll von 30 Millionen wird nicht eingesammelt, und 15 Millionen verfügen über keinen Wasserleitungsanschluß.
So könnten sich etwa Rios Favelas über Nacht in riesige Infektionsherde verwandeln. Bei jedem stärkeren Regenfall stehen ganze Stadtviertel unter Wasser, an den Stränden bilden sich »linguas pretas« (schwarze Zungen), eine Dreckbrühe voller Fäkalien und Müll aus den Slums an den Hügeln.
12 Millionen Kinder und Jugendliche, die in absoluter Armut leben, sind besonders gefährdet: Die meisten von ihnen sind unterernährt, ebenso wie 13 Millionen Erwachsene, deren Körpergewicht deutlich unter dem Minimum liegt.
Während in den sechziger Jahren auch die Mittelschicht noch gern die staatlichen Krankenhäuser nutzte, »ist das Gesundheitssystem heute total verkommen«, kritisiert die Gesundheitsexpertin Sarah Escorel. In den achtziger Jahren wurde in Rio die Zahl der öffentlichen Krankenhausbetten beträchtlich reduziert, die Bevölkerung wuchs hingegen um 16 Prozent. Die Mehrzahl der Stadtbewohner, die sich keine private Krankenversicherung leisten können, muß jetzt auch für eine Routineuntersuchung oft tagelang Schlange stehen.
»Während die Cholera in der Geschichte üblicherweise auf Kriege und Unglücke folgte«, schreibt Jornal do Brasil, »ist in Lateinamerika in diesem Jahrhundert die Armut die große auslösende Katastrophe.« Viele Millionen Brasilianer halten aus Unkenntnis nicht einmal die banalsten Hygieneregeln ein.
»Die Bedingungen«, sagt der Abgeordnete Arouca, »ähneln den peruanischen auf fatale Weise.« Trifft der Vergleich zu und hat sich das Gesundheitsministerium nicht verschätzt, wird Brasilien bis zum Jahresende an die 60 000 Cholera-Tote begraben müssen.
Mit einer »richtigen Kriegsaktion«, so der Gesundheitsstaatssekretär Pedro Valente, soll das Schlimmste verhindert werden. Mehr als eine Milliarde Mark will die Regierung zur Bekämpfung der Seuche bereitstellen; die Streitkräfte sind darauf vorbereitet, Feldkrankenhäuser aufzubauen.
Doch die ersten Maßnahmen gegen die Seuchengefahr stimmen wenig zuversichtlich. So kaufte das Gesundheitsministerium 11 500 Toiletten für das Amazonasgebiet. »Die Benutzung eines Klos durch mehrere Personen«, kritisiert der Mikrobiologe Carlos Andre Salles, »wird dazu beitragen, daß sich die Bakterien noch schneller ausbreiten.« Sicherer sei es da allemal, den »Darm in freier Natur zu entleeren«.
* Wäscherinnen bei Carajas im Norden Brasiliens.