KUNSTKRITIK Fruchtbares Chaos
Im Theatron an der Spielstraße des Münchner Olympiaparks agieren japanische Folterer und Vergewaltiger nach der Devise ihres Meisters Shuji Terayama, das Theater sei »Stützpunkt der erotischen Revolution am Schnittpunkt zur politischen«; auf den Salzburger Festspielen 1972 stürzt der grandiose Oboist Heinz Holliger während seiner Komposition »Cardiophonie« für einen Bläser und drei Magnetbandgeräte vom Stuhl, während -- donnernd reproduzierter -- Herzschlag und Atem immer schneller und lauter werden; auf der Kasseler Documenta 1972 erschrecken Zuschauer vor einer naturalistischen Neger-Kastration aus dem rassistischen Süden der USA.
Die Ratlosigkeit vor den Aktionen dieser pauschal »Kulturrevolution« genannten »nachästhetischen Kunst« ist denn auch ebenso allgemein wie die schlichte Frage, was das alles denn wohl zu bedeuten habe.
Darauf gibt der in Münster und Köln lehrende Philosophie-Professor Günter Rohrmoser, 44, eine Antwort, der es am Knalleffekt des Happenings ebensowenig mangelt wie an der Anstrengung des Begriffs**.
Sein Begriff der Kulturrevolution hat freilich mit dem der Chinesen nichts gemein: Er versteht unter ihr jene Bewegung, für die sich mit der Selbstaufhebung autonomer Kunst jeder Inhalt in die Form aufhebt, wodurch »alle Realität ästhetisch wird«, Kunst und Wirklichkeit, Kunst und Politik austauschbar werden. Gedanken über Walter Benjamin, der die Ästhetisierung der Politik dem Faschismus zugeschrieben hat, finden sich bei Rohrmoser jedoch nicht.
Zu geistigen Ahnherren der Kulturrevolution erklärt er überraschenderweise zwei Deutsche, deren Schriften dem deutschen Bürgertum eher als sogenanntes Kulturgut geläufig sind, nämlich Johann Gottlieb Fichte (1762 bis 1814), dessen »Reden an die deutsche Nation« als Aufruf zum Kampf gegen Napoleon in die Geschichte eingingen, und Friedrich Novalis (1772 bis 1801), der als Sucher nach der »Blauen Blume« der Romantik, nicht aber als Agitator des Aufruhrs bekannt geworden ist.
* Neger-Kastration als Environment von Edward Kienholz auf der Documenta 5.
** Günter Rohrmoser: »Herrschaft und Versöhnung. Ästhetik und die Kulturrevolution des Westens«. Verlag Rombach, Freiburg; 152 Seiten; 15 Mark.
Den Ursprung der modernen Kulturrevolution im Denken von Fichte und Novalis leitet Rohrmoser daraus her, daß beide wie die Kulturrevolutionäre von heute die »Neuschöpfung der Welt aus der absoluten Macht der Einbildungskraft« propagierten.
Fichte hatte die produktive Einbildungskraft als »ursprüngliches Vermögen« des Menschen begriffen und die Kunst als Drang, die Welt anschaulichsinnlich neu zu erschaffen.
Novalis führte diesen Gedanken radikal zu Ende: Er nannte die Kunst »progressive Anthropologie« und nahm damit den Anspruch der Kulturrevolution vorweg, durch die in Aktion verwandelte Kunst »anthropologische Strukturen« aufzubrechen.
Die Kunst soll nach Meinung von Novalis -- und nach Meinung der Kulturrevolutionäre -- die totale Aufhebung der ökonomisch verdinglichten Welt bewirken. Sie soll alle menschlichen Kräfte in einem unendlich fortschreitenden Prozeß beleben, steigern und vervielfältigen -- so wie die Musiktheater-Aktion des Oboisten Holliger gleichsam experimentell die ekstatische Einheit von Kunst und Leben als Protest gegen die abstrakte Allmacht der Gesellschaft demonstriert. Damit aber beschreibt Novalis laut Rohrmoser genau das, was von den Kulturrevolutionären »unter der permanenten Revolution verstanden wird«.
Erst die Kulturrevolution, so Rohrmoser, hat die Frühromantik als Potential radikaler Veränderung erschlossen
»die einzige revolutionäre Überlieferung, die noch nicht politisch praktiziert wurde«. Ihre »Essenz« entdeckt er daher im anarchistischen Versuch, die verdinglichte Welt in ein fruchtbares »Chaos« rückzuverwandeln.
Weder der Marxismus noch die Anarchisten des 19. Jahrhunderts haben diese neue Form der Revolution eingesegnet. Sie ist vielmehr laut Rohrmoser eine Bewegung »aus dem Geiste der Ästhetik«, die jedoch die ästhetische Form der Kunst selbst auflöst. Kunst ist also auch nicht mehr »Propaganda« für Sozialutopie oder »Teil einer politischen Praxis«, sondern sie geht in »unmittelbare Aktion« über: Jedes Happening etwa zielt auf die menschliche Struktur.
Der Drang zur Aktion entstammt, so Rohrmoser, dem durch die Gesellschaft des »totalen Funktionalismus« schockierten Unbewußten. Der Aktionismus wird also von Rohrmoser als Rebellion gegen, aber auch als Reflex auf das abstrakte Regelsystem der in Technologie übergehenden »nachbürgerlichen Gesellschaft« begriffen. Ihr setzt die Kulturrevolution die absolute Macht der Einbildungskraft entgegen, die jeden Unterschied von Kunst und Nicht-Kunst aufhebt und damit Kunst und Wirklichkeit ineinander übergehen läßt.
Freilich werde, meint Rohrmoser, der geistige Ursprung der Kulturrevolution in der frühen Romantik verkannt, weil die »Politisierung der nachästhetischen Kunst«, ihr Wille, unmittelbar emanzipatorisch zu wirken, zugleich an der »Reduktion des Verständnisses Von Emanzipation auf die Zerstörung sexueller Tabus« teilhat.
Bleiben aber die Ziele der Emanzipation begrifflich ungeklärt, so könnte es sein, fürchtet Rohrmoser, daß der Übergangscharakter sexueller Befreiung sich einzig »in die Betäubung ... des Bewußtseins durch die Drogenpraxis oder in den Ausbruch in das Verbrechen« fortsetzt.
Den radikalen Ausbruch aus jeder Sozialität fürchtet Rohrmoser auch deswegen, weil er in der Kulturrevolution auch ein Produkt »biologisierter Ästhetik« sieht, in der Rausch und Ekstase ebenso wichtig werden wie die »künstlich erzeugte Apathie des Bewußtseins«.
Damit aber, so Rohrmoser, enthüllt die Kulturrevolution, die sich der Entfremdung der modernen Gesellschaft radikal widersetzt, ihre eigene Entfremdung: Sie will emanzipieren und verändern, aber aus ihren Aktionen spricht einzig der Ekel vor der Gesellschaft -- auch sie ist immer noch in den Teufelskreis der Technischen Welt gebannt.
Wie marxistische Philosophen, etwa Wolfgang Harich oder Hans Heinz Holz, die Kulturrevolution als kleinbürgerlichen Anarchismus kritisieren, so fürchtet auch Emanzipationskritiker Rohrmoser, die sich nur in grotesker Selbsttäuschung für marxistisch haltende Kulturrevolution könne am Ende zum bloßen anarchistischen »Mummenschanz« geraten, der »den Ausverkauf der Kultur begleitet«.