16-Jährige trifft 35-Jährigen Die Kunst, von der Liebe zu erzählen, ohne dass es peinlich wird

In dem Filmdebüt der jungen Französin Suzanne Lindon geht es um ein heikles Thema: Ein junges Mädchen verliebt sich in einen mehr als doppelt so alten Mann. Doch das Wagnis gelingt.
Raphael (Arnaud Valois) und Suzanne (Suzanne Lindon) tanzen sitzend zu Vivaldi

Raphael (Arnaud Valois) und Suzanne (Suzanne Lindon) tanzen sitzend zu Vivaldi

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- / dpa

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Die 16-jährige Suzanne ist gelangweilt. Wenn sich ihre Freundinnen übers Verliebtsein unterhalten, kann sie nur müde lächeln. Auf Partys amüsiert sie sich auch nicht so richtig, sie mag kein Bier, und auf einer Skala von eins bis zehn würde sie allen Jungs in ihrem Alter nur eine Fünf geben. Dann trifft sie den 35-jährigen Theaterschauspieler Raphael. Auch er leidet an Ennui, der französischen Volkskrankheit. Jeden Abend muss er dasselbe Theaterstück geben. Die beiden fühlen sich voneinander angezogen und geben sich etwas, was sonst niemand kann: Kurze Momente der Aufgeregtheit, zumindest einen Frühling lang.

Ein junges Mädchen verliebt sich in einen alten Mann – das Thema ist schlecht gealtert und will nicht mehr so ganz in die #MeToo-Ära passen. Vor allem nicht in Frankreich. Im Januar 2020 veröffentlichte die Verlegerin Vanessa Springora das Buch »Die Einwilligung« (Le Consentement), in dem sie ihre Erfahrungen mit dem Schriftsteller Gabriel Matzneff schildert. Der damals 50-Jährige hatte sie im Alter von 14 Jahren zu seiner Liebhaberin gemacht und sexuell und emotional ausgebeutet. Überraschend war das eigentlich nicht, seit den Siebzigern thematisierte Matzneff seine Vorliebe für Minderjährige in seinen Werken. Doch Spingoras Schilderungen haben nun dazu geführt, dass in Frankreich ein formelles Schutzalter eingeführt wird, Sex mit Minderjährigen unter 15 Jahren gilt künftig als Vergewaltigung. In den meisten europäischen Ländern ist das schon lange Gesetz.

»Wie alt bist du?«, fragt Raphael Suzanne, als sie nach vielen flüchtigen Begegnungen ins Gespräch kommen. »Ich bin 16, und du?«, fragt sie zurück. »35«. Ein kurzer Moment des Schweigens, sie schauen sich innig an. Man erwartet Leidenschaft, Sex, Grenzüberschreitung und Konflikt, so wie man es von Filmen kennt, in denen eine junge Frau einen alten Mann anziehend findet.

Das Drehbuch schrieb sie mit 15 Jahren

»Frühling in Paris« ist die Coming-of-Age-Geschichte eines Mädchens, das in Montmartre lebt. Gespielt wird es von der 21-jährigen Suzanne Lindon, der Regisseurin selbst. Die Tochter der französischen Schauspielstars Sandrine Kiberlain (»Mit Siebzehn«) und Vincent Lindon (»Der Wert des Menschen«) feiert mit dem Film ihr Regiedebüt, das Drehbuch schrieb sie mit 15 Jahren. Vielleicht ist der Film auch deswegen kein Aufreger geworden: Hier erzählt kein männlicher Regisseur von einer amour fou, stattdessen wirkt »Frühling in Paris« wie der Tagebucheintrag eines Mädchens, das sich neu zu definieren versucht in ihrer Rolle als Frau.

Auf den ersten Blick scheint Suzanne für ihre 16 Jahre ziemlich erwachsen zu sein, vor allem im Vergleich zu ihren Mitschülerinnen. Die gehen auf Partys, tragen enge Kleider, wollen sich mit voller Wucht ins Leben schmeißen. Suzanne verbringt ihre Zeit lieber mit einem Buch oder mit ihrer Familie und ist müde von den Routinen des Alltags. Sie läuft fast immer in einem übergroßen weißen Hemd und in Jeans rum, dazu ein nachdenkliches Gesicht.

Erst als sie Raphael (gespielt von Arnaud Valois) trifft, beginnt sie, noch mehr Facetten von Weiblichkeit auszuprobieren. Sie trägt Miniröcke und Mascara, betrachtet ihr Spiegelbild und küsst es sinnlich. Dass sie sich in einem Zwischenalter befindet, noch nicht ganz Frau, aber auch kein Mädchen mehr, symbolisieren auch die Poster in ihrem Zimmer. Auf der einen Seite hängt eines von »Bambi«, auf der anderen eines von »À nos amours«. In dem Film von Maurice Pialat geht es um die 15-jährige Suzanne, die mit ihrer Sexualität gegen ihre Eltern rebelliert.

Sie weiß genau, was sie will und was nicht

Lindon kommt ohne Rebellion und Provokation aus. Nähe wird nicht durch Sex definiert, das höchste der Gefühle sind ein paar Küsse auf die Hand und einer auf den Hals. Raphael und Suzanne kommen sich näher, indem sie nebeneinander hertanzen, in einem Pariser Café zu Vivaldi. Zwischen den beiden gibt es kein Machtgefälle, er ist kein Verführer und sie keine Verführte.

Sie weiß genau, was sie will und was nicht. »Da setze ich mich nicht drauf. Meine Eltern würden mich umbringen, und ich will es auch gar nicht«, sagt sie, als Raphael sie mit seinem Roller abholt. Also gehen sie zu Fuß, sie ist ihm immer ein Schritt voraus, und er kommt kaum hinterher, weil er seinen schweren Roller durch die gepflasterten Straßen von Paris schieben muss.

Lindon hat »Frühling in Paris« als zeitlosen Film angesetzt. In keiner Szene sind Smartphones oder Computer zu sehen, die Kamera bleibt immer ganz nah an den Figuren. Dass eine 21-Jährige auf eine Handlung ohne Sex und Medien setzt, skizziert eine Generation, die übersexualisiert und übermedialisiert ist. Die Erzählweise ist subtil, ganz anders als die schillernden und überladenen Produktionen, die Generation Z ansprechen sollen.

Die nur 74-minütige Handlung ist wie die flüchtige Begegnung zwischen den beiden Hauptfiguren, die den Frühling gemeinsam verbringen. Denn Suzanne merkt irgendwann, dass Raphael ihre Probleme nicht lösen kann, das muss sie ganz allein tun. Und genauso undramatisch, wie die Beziehung begann, endet sie auch – weil Suzanne es so möchte.

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