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SOZIOLOGIE / OST-INTELLEKTUELLE Fünfter Stand

aus DER SPIEGEL 42/1966

Jede Wüste hat ihre Oase, das kommunistische Osteuropa hat den Handkuß.

Nirgends findet man heutzutage »so erlesene Formen der Höflichkeit«, so viele »mit biedermeierlicher Hingabe« gepflegte Umgangsformen, so viele »Floskeln und Gesten von historischem Seltenheitswert« wie unter den Intellektuellen Polens, der Tschechoslowakei und der kommunistischen Balkan-Staaten.

Der Wiener Kulturpolitiker Dr. Wolfgang Kraus machte die immerhin überraschende Beobachtung wachsender kommunistischer Handkuß-Freudigkeit von einem Standort aus, den er sich selbst geschaffen hat.

Kraus, 42, residiert im Palais Wilczek in der noblen Wiener Herrengasse als

Leiter der von ihm gegründeten »Österreichischen Gesellschaft für Literatur«. Sie ist durch wohlorganisierte westöstliche Literatentreffen zu internationalem Ruf gelangt.

Seine vielfältigen Erfahrungen im Umgang mit Literatur- und Philosophie-Beflissenheit aus West und Ost hat Kraus nun in einem Buch beschrieben - Titel: »Der fünfte Stand«, Thema: die Intellektuellen*.

Die modernen Wissenschaften, mit ihren handgreiflichen Ergebnissen etwa in der Raumfahrt- und Atomtechnik, haben auch im kommunistischen Weltbereich eine »enorme Aufwertung des Intellektuellen« bewirkt.

Kraus bewertet diesen Aufstieg des »fünften Standes« zu Ansehen und damit früher oder später auch zur Macht als vorteilhaft, denn der Intellektuelle in Ost und West sei durch eine Reihe positiver Persönlichkeitsmerkmale gekennzeichnet: »Streben nach begrifflicher Klarkeit«, »Offenheit und Korrekturbereitschaft des Denkens« und »Fähigkeit zu gegenseitiger Verständigung«.

Besonderen Wert mißt Kraus der »Verständigungs-Fähigkeit« bei. Er hofft, daß die Intellektuellen die Vorurteile in Ost und West gegen die jeweils andere Seite durchbrechen.

Sein eigenes Buch steuert dieses Ziel an - unter anderem, indem es den Rückgriff alteuropäischer Höflichkeit beschreibt die umgekehrt in Westeuropa durch Amerikanismus und Snobismus weitgehend applaniert wurde.

Ähnlich paradoxe Beobachtungen machte Kraus auch auf anderen Gebieten. Während der Westen sich selbst gemeinhin als »Bereich des philosophischen Idealismus und der Religionen« versteht und den Osten, entsprechend dessen marxistisch-leninistischer Staatsideologie, als »materialistisch« ansieht, liegen - laut Kraus - die tatsächlichen Verhältnisse eher umgekehrt.

Während der Westen über den Weg der sich immer mehr ausweitenden Konsumwirtschaft eine Art materialistischer Gesinnung entwickelt, »wird die Kultur im Osten in ihre anspruchsvollste und aktivste Form gebracht«.

Dabei befinden sich - so Kraus - die kommunistischen Staatsparteien Osteuropas gegenüber den Intellektuellen in einer komplizierten Zwangslage.

Die kommunistischen Führer haben, obwohl im Prinzip »materialistisch« orientiert, eingesehen, daß sie auf materiellem Gebiet mit dem Westen nicht konkurrieren können. Angesichts dieser Perspektive sehen sie sich gezwungen, der Bevölkerung ihrer Staaten kulturelle »Werte« zu bieten, was wiederum bedeutet, daß sie sich mit den Intellektuellen verbünden und, wenn auch widerwillig, deren Ideale akzeptieren müssen: individuelle Unabhängigkeit, undogmatisches Denken und geistige Spontaneität.

Tatsächlich werde heute, meint Kraus, der individualistische Intellektuelle Im Osten weitaus häufiger als im Westen als ein gesellschaftliches Leitbild empfunden. So sei denn auch der Handkuß Im Osten zum »unbelangbaren Zeichen« einer »individualistischen Lebensauffassung« geworden.

* Wolfgang Kraus: »Der fünfte Stand« Scherz Verlag, München; 176 Seiten; 16,80 Mark.

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