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FERNSEHEN Für Schwung gesorgt

Untersuchungen aus fünf europäischen Ländern beweisen, daß »Holocaust« überall Bestürzung, doch kaum dauerhafte Aufklärung bewirkt hat.
aus DER SPIEGEL 6/1981

Tief erschüttert« zeigten sich damals zwei von drei bundesdeutschen Fernsehern. Mehr als ein Drittel des TV-Publikums war »entsetzt, daß wir Deutsche solche Verbrechen begangen und geduldet haben«, nahezu ein Fünftel hatte am Bildschirm »fast geweint«.

Doch nicht nur im Land der Judenmörder verbreitete die amerikanische TV-Serie »Holocaust« 1978/79 Abscheu und Grausen vor den Greueln des Dritten Reichs:

37 Prozent aller Briten waren »schockiert« und »entsetzt«, fast gleich viele »beschämt« und »niedergedrückt«, »daß andere Länder nichts dagegen taten«. Viele Belgier verfolgten verständnislos die schaurige Story vom SS-Karrieristen Erik Dorf und der jüdischen Arztfamilie Weiss.

Andersherum: Jeder zehnte Deutsche konnte »das Gefühl nicht loswerden, daß die Sendung vereinfacht und übertreibt«. Fast genauso viele Zuschauer waren »empört, daß man uns Deutsche auf diese Weise verunglimpft«. Zwei Prozent der »Holocaust«-Seher putzten das US-Spiel als »völlig unglaubwürdig« runter.

In Großbritannien lehnte rund ein Viertel des Publikums die Serie als »unwirklich« oder »zu sehr geschönt« ab; eine gleichgroße Zahl warf der Produktion vor, sie »vermarkte das Leiden«. Die blutige Vergangenheit »zu vergessen« und »nicht noch einmal aufzurollen«, hielten drei Prozent der BBC-Kunden für opportun; dagegen fanden 17 Prozent aller Bundesdeutschen, »daß dieses Thema uns heute nicht mehr betrifft«.

Aus Zuschauerzahlen und -urteilen, aus Blitzumfragen, Spontan-Reaktionen und Langzeit-Untersuchungen in Großbritannien, Belgien, Österreich, der Bundesrepublik und den Niederlanden hat die Zeitschrift »Rundfunk und Fernsehen«, die vom Hans-Bredow-Institut der Hamburger Universität herausgegeben wird, jetzt Echo und Auswirkung von »Holocaust« auf europäischer Basis verglichen.

In den fünf Ländern, so kommentiert Redakteur Carsten Renckstorf die Nachlese, habe sich fast übereinstimmend gezeigt, »daß die im Vorfeld der Ausstrahlung so intensiv diskutierten Vorbehalte« gegen das TV-Gemisch aus Fakten und Fiktion »kaum eine Entsprechung in den Reaktionen der Zuschauer gefunden« hätten. Weder die triviale Aufbereitung des Stoffes noch etwa allzu starke Emotion habe den Blick der Zuschauer auf das historisch unbewältigte Thema getrübt oder gar verstellt.

Ob »Holocaust« nun mehr auf die Tränendrüsen oder aufs Gewissen drückte, ob es schaurige Unterhaltung bot oder auch seriösen Geschichtsunterricht -- in jedem Fall entwickelte sich der US-Import in den fünf europäischen Ländern schon quantitativ zu einem spektakulären Ereignis.

So wurde die bundesdeutsche Medien-Sensation -- ein Zuschauer-Crescendo von 31 auf 40 Prozent an den vier Abenden in den erstmals gleichgeschalteten Dritten Programmen -- in Belgien noch weit überboten, wo die Publikumsrate von 36 auf 44 Prozent kletterte. In Österreich schwankte die Zahl der auf »Holocaust« geschalteten Geräte zwischen 52, 49, 38 und 44 Prozent. Nur in Holland schrumpfte der Prozentsatz kontinuierlich von 37 auf 30 Prozent.

Auch ästhetische Bedenken gegen das in Machart und Tonfall typische Produkt des amerikanischen Kommerz-Fernsehens wurden innerhalb Europas unterschiedlich laut.

Jeder zehnte Engländer gab an, »Holocaust« allein aus Unbehagen an der filmischen Aufbereitung gar nicht erst eingeschaltet zu haben; und von den britischen Sehern warfen immerhin 23 Prozent der Serie vor, sie habe als »Fiktion minderer Qualität« das »Leiden billig verkauft«. Nur die Hälfte aller zuschauenden Engländer bezeichnete die Serie als »geschmackvoll«.

Auch unter seinen Landsleuten, so berichtet der Belgier Herman Santy in »Rundfunk und Fernsehen«, war der Eindruck weit verbreitet, in »Holocaust« sei »das Leid auf kommerzielle Weise« und damit »unanständig ertragsfähig gemacht worden«. Von den österreichischen Zuschauern lehnte jeder achte die Serie als »rührselig und kitschig« ab.

Dennoch: Selbst starke Bedenken gegen den Glamour des Buntfilms konnten nicht verhindern, daß die historischen Fakten zur »Endlösung der Judenfrage« supranational zum leidenschaftlichen Gespräch anregten. So gab die Hälfte aller Österreicher an, nach den Sendungen intensiv über Schuld und Sühne diskutiert zu haben, in der Bundesrepublik nahmen sogar drei von vier Zuschauern an solchen Gesprächen teil oder regten sie an.

Gleichwohl hat der Medien-Knüller »Holocaust« weder in den Herzen noch im Kopf der europäischen Fernsehkonsumenten einen entscheidenden Wandel bewirkt: »Die Erwartung«, so Kommentator Renckstorf, »das Fernsehen könne auf Grund seiner manipulativen Möglichkeiten für Zwecke der Aufklärung rasch, umfassend und wirksam eingesetzt werden«, habe sich »nicht erfüllt«.

Bei der Frage, ob »Holocaust« die Menschen über Nazi-Greuel nachhaltig belehrt oder gar die Toleranz gegenüber Minderheiten wie Juden, Gastarbeitern oder Homosexuellen spürbar gefördert habe, taktieren die Wissens- und Gewissensforscher äußerst vorsichtig.

Zwar wird der belgischen Bevölkerung nach »Holocaust« ein »größerer Respekt vor der belgisch-jüdischen Gemeinde« und »größeres Wissen« über sie nachgesagt, und die schulpflichtigen Niederländer sollen aus der Serie als geschichtlichem Anschauungsmaterial fürs Leben gelernt haben.

Ob dieser »Wissenszuwachs« allerdings »längerfristig sein wird«, so Berichterstatter Jan van Lil, sei »natürlich fraglich«. Ein halbes Jahr nach der Sendung sei er zumindest »noch nachweisbar« gewesen.

Auch in Österreich scheinen, laut »Rundfunk und Fernsehen«, »positive Langzeitwirkungen nachweisbar zu sein«. Zwar war das gleich nach der Sendung verzeichnete Geschichtsbewußtsein fünf Monate später wieder »auf das Niveau zurückgefallen, das vor ''Holocaust'' gemessen worden war«. 1980 indes registrierten die Forscher wieder ein Plus an Kenntnis und Interesse -- »Holocaust« doch kein Strohfeuer?

Daß sich die meisten Wirkungshypothesen zu der Serie nicht bewahrheiteten und daß sich Befürchtungen wie Hoffnungen als falsch erwiesen, zeigt auch die jüngste, in der Bundesrepublik gestartete Untersuchung: Sie wurde im Juni 1980, 17 Monate nach Sendung der Serie, durchgeführt, ist die letzte einschlägige Enquete und bislang weder völlig ausgewertet noch gar veröffentlicht.

Nach diesen Untersuchungsergebnissen halten sich heute die deutschen »Holocaust«-Zuschauer von damals für S.182 gut informiert über Nazi-Ära und Juden-Schicksal, und die Fragen des Films beherrschen angeblich nach wie vor viele ihrer Diskussionen. »Der Film«, beurteilt Diplom-Psychologe Tilman Ernst von der Bonner Bundeszentrale für Politische Bildung diese jüngsten Daten, »hat für Schwung gesorgt.«

Dieser Schwung reichte allerdings nicht aus, grundsätzliche Vorurteile der Deutschen spürbar abzubauen. Ernst: »Da hat die Serie wenig ausgerichtet.«

In der zeugnisähnlichen Bewertung (von +5 bis --5) fiel die Note für Hitlers Diktatur von --2,30 in der unmittelbaren Abfrage nach der Sendung auf --2,70 im Juni 1980. Auch das Statement, der Nationalsozialismus sei »im Grunde eine gute Idee« gewesen, die »nur schlecht ausgeführt worden« sei, wurde in der letzten Umfrage negativer bewertet: »Ja, stimmt«, fanden damals 31 Prozent der befragten Zuschauer, jetzt nur noch 24 Prozent, während unter den Nichtsehern von »Holocaust« heute mehr als damals zu einem Ja-Wort neigten. Positive Zensuren verteilt das bundesdeutsche TV-Publikum inzwischen auch für die Gestaltung von »Holocaust": Etliche Befragte erhöhten ihre Wertung von »Gut« auf »Sehr gut«, und auch die Durchschnittsnote stieg leicht an.

Da überrascht es denn auch nicht, daß 57 Prozent des »Holocaust«-Publikums vom Januar 1979 bei einer Wiederholung der Serie »bestimmt« oder »wahrscheinlich« ein zweites Mal zuschauen würden. Erstaunlicher schon, daß unter den damaligen Verweigerern oder Verhinderten jetzt 39 Prozent zusehen möchten.

Doch diesen Wünschen gegenüber und jedem -- wenn auch nur geringen -- aufklärerischen Nutzen zum Trotz hat sich das deutsche Fernsehen, das »Daktari« oder »Paulchen Panther« am liebsten dauerlaufen ließe, bislang taub gestellt.

Groteskerweise war eine Wiederholung bis Oktober vergangenen Jahres durch ein WDR-Veto blockiert: Während des Bundestagswahlkampfes, so hatte WDR-Intendant von Sell (SPD) angeordnet, müsse die Serie im Archiv bleiben, da sie im Strudel des Parteiengezänks wenig sachdienliche Diskussionen entfachen könnte.

Aber auch für dieses Jahr hat der Kölner Sender (als Importeur der Serie) in seinem dritten Kanal keinen Platz geschaffen, die ARD hat eine bundesweite Ausstrahlung im Ersten Programm nicht einmal ernsthaft diskutiert.

Frühestens 1982 kann nun »Holocaust« wieder ins deutsche Fernsehen kommen. Selbst dann aber ist eine bundesweite Gleichschaltung der fünf Dritten nach dem effektvollen Vorbild von 1979 fraglich: Die Bayern beispielsweise machten schon damals nur ungern mit.

S.181SPIEGEL-Titel 5/1979.*

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