FORSCHUNG Fund im Kristall
An Grönlands zerklüfteter Westküste, zwischen harscher See und dem Gletscherrand des Inlandeises, liegt ein einzigartiger Fleck Erde. Wenn es stimmt, was die Forscher dort aus dem Felsgrund lesen, dann müssen alle Vorstellungen über die Entwicklung des Lebens auf diesem Planeten neu überdacht werden.
Glutflüsse aus der Tiefe sind hier, 150 Kilometer nordöstlich von Godthaab, zu Lava und Granit erstarrt. Dazwischen aber fanden Geologen fein- bis mittelkörnigen Quarzit, der einmal aus Verwitterungsprodukten zusammengespült worden sein muß.
Bemerkenswert genug: Die Sedimente dieser sogenannten Isua-Serie sind, mit 3,8 Milliarden Jahren, die ältesten je aufgespürten Ablagerungen der Erde.
Die wahre Überraschung jedoch zeigte sich erst unter dem Mikroskop. Professor Hans-Dieter Pflug vom Geologisch-Paläontologischen Institut der Universität Gießen entdeckte in Dünnschliffen des kristallinen Gesteins Hohlkügelchen von rundlicher bis länglich-ovaler Form, fünf bis 40 tausendstel Millimeter groß.
Etliche dieser »Isuasphären«, berichtet Pflug in der Monatsschrift »Naturwissenschaften«, enthalten kohlige Substanzen. Kohlenstoff aber ist das Grundelement aller biochemischen Verbindungen.
Mehr noch, die Bläschen im Quarzit haben Wandungen; und ihre Gestalt ist so charakteristisch, daß dem Wissenschaftler nur ein Schluß zwingend scheint: Die Einschlüsse sind Reste einzelliger Organismen, »Fossilien der frühesten bisher bekannten Lebewesen
Wie organische Relikte aus der ersten Phase der Erd-Urzeit (siehe Graphik) hätten überdauern können, wäre nach dem Muster jüngerer Fossilien zu verstehen. Im Wasser sammelt sich Kieselsäure mitunter zu gelatineartigen Klumpen, die Kadaver oder Skelette von Lebewesen einschließen und dann versteinern.
Die nun in Grönland aufgefundenen Quarzit-Fossilien haben die fast vier Jahrmilliarden gut überstanden: Form und Struktur der rund 100 bisher untersuchten Exemplare sind derart deutlich zu erkennen, daß der Gießener Geologe und Paläontologe Vergleiche mit heute lebenden Kleinstlebewesen anstellen konnte: Die Isuasphären ähneln primitiven Hefepilzen.
Mit diesen Einzellern haben die fossilen Organismen, obgleich sie mutmaßlich auf einer viel niedrigeren Entwicklungsstufe standen, eine ganze Reihe von Merkmalen gemein:
* Größe und Form der Zellen sowie Stärke und Feinbau der Zellwand entsprechen einander.
* In manchen der fossilen Zellen ist ein Hohlraum erhalten, der denen von Hefezellen gleicht.
* Ausstülpungen und Abschnürungen der fossilen Zellen scheinen Stadien der Vermehrung anzudeuten, wie Hefezellen sie durchlaufen, wenn sie Sprossen hervorbringen; und wie bei den Hefezellen trennen sich
* Links: »Isuasphären« aus Grönland; Mitte: Zell. gebilde aus Südafrika.
Mutter- und Tochterzelle durch Ausbildung einer Doppelwand. Ob die Isuasphären zu Lebzeiten bereits einen Zellkern und andere Binnenstrukturen hatten wie die Hefepilze, läßt sich aus dem Fossilmaterial nicht mehr erschließen.
Jedenfalls aber erlauben die Grönland-Funde neue Aussagen über den Beginn des Lebens auf der Erde -- und zwar konträr zu den Vorstellungen, die sich die Evolutionsforscher bisher gemacht haben.
Das geologische Alter der Erde schätzen die Forscher auf knapp 4,5 Milliarden Jahre. Schon nach den ersten 100 Millionen Jahren hat sich womöglich eine abgekühlte Kruste gebildet -- potentieller Lebensraum.
Die Entwicklung höherer Vielzeller-Organismen, vor allem der Wirbeltiere und der Landpflanzen, setzte aber erst zu Beginn des Erd-Altertums vor rund 600 Millionen Jahren ein. Für die voraufgehende biochemische und biologische Evolution (also die Entwicklung von einfachen Molekülen zu Eiweißstoffen und weiter zu lebenden Zellen, die sich schließlich zu Zellverbänden organisierten) schien mithin genügend Zeit übrig -- einige Jahrmilliarden.
Doch inzwischen sprechen mehrere Indizien für die Vermutung, daß sich die ersten primitiven Lebewesen viel früher und schneller ausgebildet haben, als bisher angenommen wurde.
So fanden etwa der Harvard-Geologe Elso S. Barghoorn und seine Mitarbeiter zunächst zwei Milliarden Jahre, dann 3,1 Milliarden Jahre und schließlich (1977 in Südafrika) sogar 3,4 Milliarden Jahre alte Einzeller-Fossilien -- oder jedenfalls was Barghoorn dafür hält.
Etliche Forscher widersprechen dem Harvard-Mann: Kleine Kügelchen, die sogar wachsen und sprossen können -- aber dennoch kein Leben sind -, würden sich auch schon bilden, wenn man bestimmte Eiweißstoffe in warmem Wasser löst.
»Andere wichtige Merkmale aber«, kontert der Gießener Professor Pflug solchen Zweifel, unterscheiden die Gesteinseinschlüsse deutlich von den im Labor erzeugten Gebilden. So haben die Fossilien eine äußere Hüllschicht, »wie sie für viele Mikroorganismen charakteristisch ist und sich nur als Produkt eines intensiven Stoffwechsels -- also einer echten Lebensäußerung -- verstehen läßt« (Pflug).
Über die Vermutung Barghoorns und seiner Mitarbeiter, in den Ur-Ozeanen hätten sich Stammformen einfachster Organismen wie der heutigen Bakterien und blaugrünen Algen entwickelt, geht sein Gießener Kollege sogar noch hinaus.
Professor Pflug hat außer den Ablagerungen von Grönland ebenfalls südafrikanische Sedimente aus der Urzeit der Erde untersucht. In Bohrproben aus der Sheba-Goldmine im Barberton-Bergland fand er Fossilstrukturen, die den Hefepilzen der Gegenwart noch deutlicher als die grönländischen Isuasphären gleichen.
Demnach, folgert er, »müßten bereits vor 3,3 Milliarden Jahren beide Lebensstämme nebeneinander existiert haben« -- kernlose Einzeller wie die Stammformen von Bakterien und Algen und solche, deren Erbsubstanz wie bei Hefepilzen in einem Zellkern vereinigt ist.
Das hieße: Zwischen der Bildung von Krustengestein und Wasser auf der Erde und der Entwicklung von Zell-Stammformen vergingen nur gut eine halbe Milliarde Jahre -- nach bisherigen Vorstellungen eine erstaunlich kurze Zeit.
Müssen die Paläontologen, wenn also die Evolutions-Zeit auf der Erde so knapp war, nun doch auf eine Lebens-Saat aus dem Universum spekulieren?
»Vorgefertigte organische Bauteile«, überlegt Pflug, könnten durchaus »von außen auf die Erde gebracht worden sein«, etwa mit herabsausenden Meteoriten. Andererseits, so gibt der Experte zu bedenken, »wird das Problem der Lebensentstehung kaum einsichtiger, wenn man es auf einen kosmischen Schauplatz verlagert«.
Einstweilen hält es Pflug noch wie sein US-Kollege Stephen Jay Gould, Geologie-Professor an der Harvard University. Auch den hatten die jüngsten Erkenntnisse über archaische Lebensspuren irritiert, dann aber doch zu einem bedachtsamen Resümee gebracht.
»Die Ansicht, das Leben habe eine langsame, gleichmäßige Entwicklung voller Unwahrscheinlichkeiten hinter sich, sind wir gezwungen aufzugeben«, urteilte Gould und verwarf damit die Hypothese von kosmischen Keimen: »Leben entstand vielmehr schnell und so früh, wie es nur möglich war, als die Erde hinreichend abkühlte.«