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KUNST Furioses Aufbegehren

In den Geschichtsbüchern zur deutschen Kunst fehlt der Name: Charlotte Salomon. Dabei ist der kraftvolle Bilderzyklus, den diese junge Frau, vor ihrer Ermordung in Auschwitz, gemalt hat, ein Schlüsselwerk des 20. Jahrhunderts - als solches wird er hier zu Lande jetzt gewürdigt.
aus DER SPIEGEL 25/2004

Charlotte Salomon hatte in ihrem jungen Leben schon viel verloren: ihre Mutter, ihre Heimatstadt Berlin, die Aussicht auf irgendeine Zukunft. Nun, im März 1940, brachte sich vor ihren Augen ihre Großmutter um. Die alte Dame stürzte sich aus dem Fenster eines Hauses in dem kleinen Ort Villefranche nahe Nizza - dort war ein Teil der Familie auf der Flucht vor den Nazis gelandet.

Eine Fotografie, wenige Monate vor dieser Tragödie entstanden, zeigt, wie die hübsche Charlotte Salomon verhalten lächelnd in einem Garten in Villefranche sitzt, vor einem Zeichenblock, in einem hellen Kleid. Ein vermeintliches Idyll, in Wahrheit aber eine schon damals hoch gefährdete Insel der Beschaulichkeit.

Nach dem Selbstmord der Großmutter beschloss die Kunststudentin, für eine gewisse »Zeit von der menschlichen Oberfläche zu verschwinden« und ihr bisheriges Leben in Wort und Bild zu bilanzieren - mit gerade erst 23 Jahren.

Entstanden ist so ein rauschhaftes, von kraftvoller Malerei dominiertes Werk: die bebilderte Autobiografie eines gehetzten Menschen, der getrieben wurde auch von der Angst, nicht einmal mehr für den Rückblick auf sein vergleichsweise kurzes Dasein genügend Zeit zu haben. Der Titel - »Leben? Oder Theater?« - verrät nicht die politische und private Dramatik des Ganzen.

Charlotte Salomon hat 18 Monate an diesem nachgetragenen Tagebuch gearbeitet. Mehr als 1300 farbenprächtige, furiose Gouachen sind erhalten. Alles ist überraschend an diesem Werk: die Bilder, die bunt und dennoch weit entfernt von jeder Beliebigkeit daherkommen; die kurzen Texte, die ungewöhnlich lebendig wirken; und die Konzeption des Lebensberichts als eines musikalischen Theaterstücks - die Autorin nennt es selbst ein »Dreifarben-Singespiel«.

Die Malerin akzentuierte nahezu jedes Bild mit einem Text; zunächst beschriftete sie Transparentblätter, die sie über die Zeichnungen legte, später schrieb sie in großen eiligen Buchstaben direkt auf die Motive. Schon beim Malen der Bilder dachte sie ständig an bestimmte Melodien, etwa von Mozart, Bach und Schubert oder aus Operetten von Franz Lehár und Johann Strauß. Zu dieser Musik sollten die Texte - Dialoge und kurze Schilderungen - dann auch gesprochen und gesungen werden.

Das Format der Blätter, 32,5 mal 25 Zentimeter, ist nicht spektakulär, die Kunst ist

es sehr wohl. Charlotte Salomon nannte ihren melodischen Text- und Bilderzyklus eine »seeleneindrängerisch geleistete Arbeit« und »etwas ganz Verrückt-Besonderes«. Alles, was ihr Leben und das ihrer Familie bis dahin geprägt hatte, Fröhliches wie Schreckliches, wird erwähnt - sogar die Hochzeitsnacht der Eltern (ihr Vater »hat für seine erste Nacht das feinste Hotel der Stadt gewählt"), auch die antisemitische Hetze, die sie daheim in Berlin erleben musste.

Ein großer Teil ihres ungewöhnlichen und nahezu einzigen künstlerischen Vermächtnisses wird demnächst in einer Ausstellungstournee quer durch Deutschland gezeigt, zuerst im Frankfurter Museum Städel, anschließend in den Kunstsammlungen Chemnitz und in der Neuen Nationalgalerie in Berlin*.

Es geht, so heißt es im Frankfurter Städel, um die Würdigung einer Frau, die »in ihrem kurzen Leben die Utopie des modernen Künstlers in die Tat umgesetzt hat« - und deren ästhetische Genialität gerade in Deutschland nie angemessen beachtet worden sei. Die Bilder wurden meist nur als Illustrationen eines ergreifenden Schicksals wahrgenommen. In Frankfurt dürfen sie sich sogar gegen bekannte Werke der Moderne behaupten, etwa von Ernst Ludwig Kirchner oder Max Beckmann.

Charlotte Salomon war erstaunlich lange eine Unbekannte, trotz Ausstellungen in Europa, Asien und Nordamerika, trotz der Filme, die über ihr Leben gedreht wurden, trotz einer nach ihr benannten Schule in Berlin. Gerade die Kunstwissenschaft, in der doch die autobiografische Darstellung längst zum wichtigen Thema erklärt wurde, hat dieses Bildertheater unverzeihlich lange übersehen.

Aber jetzt scheint das Interesse zu explodieren. Das Jüdische Historische Museum in Amsterdam, das im Besitz des Konvoluts ist, wird immer häufiger um Leihgaben gebeten. Dass es vermehrt auch große Kunstmuseen sind, die da anfragen, ist ein Beleg für die späte Anerkennung der Malerin.

Der visionäre Duktus der Arbeiten scheint von der damaligen Moderne zu zehren, von der in NS-Deutschland angefeindeten Malerei eines Edvard Munch, Henri Matisse, Max Beckmann und Marc Chagall. Und doch ist die Künstlerin der Zeit voraus. Etliche Blätter wirken so expressiv verwegen wie erst viele Jahre später wieder die Kunst der Jungen Wilden, die in den Achtzigern Furore machte. Nur hat sie keine Einzelbilder geschaffen, sondern eine Bilderserie, eine Art gemaltes Kino - dabei gilt das Serielle in der Kunst als Erfindung der sechziger Jahre.

Auf der Rückseite eines der Blätter notierte sie eine kühle, kluge Selbstein-

schätzung: »Ich habe das, was van Gogh in seinem Alter erreichte ... nämlich jene unerhörte Leichtigkeit des Striches, die leider sehr viel mit dem Pathologischen zu tun hat, schon jetzt erreicht.«

Bald nachdem sie ihr malerisches Singspiel 1942 abgeschlossen hatte, übergab sie den Stapel aus losen Blättern einem Bekannten mit den Worten: »Das ist mein ganzes Leben.« Kurz darauf - sie war seit einigen Monaten verheiratet und schwanger - wurden sie und ihr Mann Alexander Nagler verraten und nach Auschwitz deportiert. Charlotte wurde wohl sofort umgebracht; Nagler, ein österreichischer Emigrant, den die junge Frau nach ihrer Flucht kennen gelernt hatte, starb an den Folgen der Zwangsarbeit. Die vage Hoffnung Charlottes, die schreckliche Gegenwart sei womöglich nur ein absurdes Spiel mit gutem Ausgang, hatte sich nicht erfüllt.

Ihr Vater überlebte den Holocaust; von der Existenz der ungewöhnlichen Autobiografie erfuhr er erst zwei Jahre nach Kriegsende.

Das Lose-Blatt-Buch ist auch - das überraschte den Vater - eine indiskrete, bisweilen fast gnadenlose Analyse der eigenen Familie. Alle Personen tragen leicht zu entschlüsselnde Pseudonyme; aus ihrem Vater, dem Chirurgen Professor Albert Salomon, wurde etwa Professor Albert Kann, aus ihr selbst Charlotte Kann.

Die Darstellung beginnt im Jahr 1913, drei Jahre vor der Hochzeit der Eltern und vier Jahre vor Charlottes Geburt - mit einem der vielen Selbstmorde in der Familie. Als sich später ihre einst so fröhliche Mutter (wie zuvor deren Onkel und deren Schwester) das Leben nahm, wurde die acht Jahre alte Tochter mit der Lüge geschont, eine Grippe habe den Tod verursacht. Erst als Erwachsene, im Exil, sollte sie die Wahrheit erfahren.

Ihr Vater hat erneut geheiratet: die Konzertsängerin Paula Lindberg (im Buch Paulinka

Bimbam), eine imposante Frau. In Charlottes Stück tritt sie als beeindruckende Blondine auf und wird sofort zu einer der Hauptfiguren. Sie kennt die kulturelle Prominenz, wird selbst gefeiert. Das Leben in dem Haushalt in Berlin-Charlottenburg erscheint plötzlich aufregender.

Dann verdichtet sich die Gefahr. Bei der Machtergreifung ist Charlotte 15 Jahre alt. Der Vater verliert seine Professur, wird interniert, kommt wieder frei - Charlotte imitiert auch den angespannten Tonfall, der damals im Hause Salomon herrschte: »Du blödes Frauenzimmer, was läufst du denn jetzt weg. Dein Vater ist im Lager ...«

Charlotte verlässt wegen der unerträglichen Anfeindungen die Schule und nimmt Zeichenunterricht. Dann immerhin scheint sie sich einen Wunsch erfüllen zu können. Sie bewirbt sich zum Wintersemester 1935 an der Berliner Kunstakademie ("Nur der wagt, der kann gewinnen«, »Nehmen Sie auch Juden auf?"). Die Farben auf ihren Bildern werden sommerlich hell, die Szenerie wirkt unbeschwert und verträumt - bis auch das Leben an der Hochschule zur Tortur wird.

Es gibt noch eine andere Qual: Sie hat sich in einen Gesangspädagogen verliebt, der mit einer anderen Frau verlobt ist, eigentlich aber ihre Stiefmutter anbetet. Ihn, den sie Amadeus Daberlohn nennt, lässt sie Sätze sagen wie: »Auf jeden Fall geh ich schon morgen wieder hin zu meinem Traum, zu meinem Kind, zu meiner Sängerin!« Die hoheitsvolle Paulinka bleibt wohlwollend unbeeindruckt: »Na, da kommen Sie ja wieder angewackelt.«

Es herrscht, fernab von solchen Anekdoten, eine Gleichzeitigkeit der ungleichen und unvergleichlichen Tragödien - politischer Wahnsinn, brutale Demütigung und Verfolgung, eine traurige Familiensaga und eine unglückliche, bitterkomische Liebe. Charlotte Salomon reagiert mit Humor, Zynismus, Wut; und es sind diese starken Stimmungen, mit denen sie ihr (imaginäres) Publikum unmittelbar konfrontiert. Ihre düstersten Farben sind aber nicht Schwarz und Grau, sondern ein dunkelkühles Violett und ein Nachtblau.

Die junge Künstlerin hat das gesamte, unfassbare Drama auf viele kühne, oft skizzenhaft hastige Szenen verteilt. Häufig gerät ihre Malerei wüst, fast abstrakt. Die Nazis formieren sich bei ihr zu einer einzigen marschierenden Masse, über der eine flatternde Fahne triumphiert. Hoch über Berlin schwebt ein Hetzartikel aus dem »Stürmer«. Eine Reise nach Rom unterbricht das Grauen wie eine surreale Episode. Die Mutter, die in den Tod springt, fällt in ein frühlingshelles Nichts.

Und den angehimmelten Gesangspädagogen Daberlohn, die bald wichtigste Person in ihrem Leben und ihrem Theater - ihn zeigt sie immer wieder, manchmal vervielfältigt sie sein Antlitz zu einem Meer von Gesichtern. Sie hält sich bei alldem an keine Regeln, weder an Malereitraditionen noch an Gattungsgrenzen. Bild und Text sind schließlich eins. Oft umrandet sie Personen und Gegenstände fast wie in einem Comic mit starken Konturen, verknüpft gleich mehrere Szenen collagenhaft auf einem Blatt.

Und sie wagt, in Bild und Text, Zuspitzungen und Abschweifungen. Die Darstellungen sind - und das gelingt nur wenigen Künstlern so eindrucksvoll - subjektiv und klug distanziert zugleich; der Schwere der Inhalte begegnet sie mit kurzen, stechenden Sätzen. Nichts wird mystifiziert, nichts vergessen. Als Charlotte in Südfrankreich an ihrer Verzweiflung beinahe zerbricht, entgegnet ihr der Großvater: »Nun nimm dir doch schon endlich das Leben, damit dies Geklöne endlich aufhört.«

Sie sehe und spüre die Schönheit um sich herum, das Meer, die Sonne, schreibt sie in ihrem Nachwort. Einer der letzten Sätze klingt wie eine Beschwörung ihrer eigenen Stärke. Sie habe mit ihrer Arbeit »ihre Welt neu erschaffen wollen«.

Dieses Dokument einer expressiven Rebellion, eines künstlerischen Aufbegehrens auch gegen das eigene Schicksal - es sollte und wird wohl als eines der Schlüs-selwerke des 20. Jahrhunderts in die Kunstgeschichte eingehen. ULRIKE KNÖFEL

* 18. Juni bis 22. August im Museum Städel. Katalog imPrestel-Verlag, München; 448 Seiten, 860 Abbildungen; 29,90 (imBuchhandel 59) Euro.* 1939 in Südfrankreich.

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