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THEATER / BOND Furt mit Florence

aus DER SPIEGEL 16/1968

Englands Königin Viktoria reißt sich die Zähne aus dem Kiefer, hebt den Hammer und nagelt die Spitzen in den Sarg, in dem die abgenagten Glieder ihres Sohnes Arthur ruhen.

Die königlichen Hammerschläge sind verhallt. Am vorletzten Wochenende besuchten Polizisten das Londoner Royal Court Theatre und verbaten sieh weitere Majestätsbeleidigungen; Königin Viktoria (1819 bis 1901), Sinnbild eines prüden Säkulums, das selbst Klavierbeine verhüllte, soll in Frieden ruhen.

Im Drama »Early Morning« (Früher Morgen) des Briten Edward Bond, 33, war sie zu kurzem und kuriosem Leben erwacht: Schon vor dem zweiten Auftritt der stark verzeichneten Monarchin bremste die Staatsgewalt.

Tatsächlich hat noch kein Sterblicher die Königin Viktoria so gräßlich geschändet. Bond sagt ihr nach,

* sie habe in lesbischer Liebe der Krankenpflegerin Florence Nightingale angehangen;

* sie habe der Geliebten Schnauzbart und Schotten-Kilt umgelegt und sie als Kammerdiener John Brown stets nah gehalten.

Die Verleumdung trifft Personen, die jedem Briten lieb wie Lesebuch-Figuren sind.

Florence Nightingale (1820 bis 1910) ist die Vorkämpferin moderner Krankenpflege. Mit 17 Jahren hatte sie, gleich der Jungfrau von Orleans, Gottes Stimme vernommen; der Herr gab ihr Order, den Bresthaften zu helfen.

Im Krim-Krieg, in dem die Briten wider Rußland fochten, organisierte sie Lazarette und erschien den Blessierten als die »Lady mit der Lampe« -- nachts noch sah die Sanitäterin mit einem Windlicht nach den Wunden.

Die Heimat erhob sie zur Heldin. Königin Viktoria stiftete ihr einen Sonder-Orden, ein Kreuz mit Brillanten und der Inschrift »Krim«, und befahl der Armee, »dieses Zeichen meiner Dankbarkeit durch militärischen Gruß zu ehren«.

Gleich huldvoll hielt die Herrscherin ihren Kammerdiener John Brown, den Bond nun als verkleidete Miss Nightingale enthüllt haben will. Der Lakai durfte nach dem Tod des Viktoria-Gatten Albert in einer Kammer vor dem königlichen Schlafgemach ruhen und »war mächtiger«, sagte General Grey, »als alle Minister zusammen«.

Brown, ein kolossaler, bärtiger Schotte, entschied zum Beispiel, Britanniens Matrosen sollten Vollbärte

* Moira Redmond und Marianne Faithfull.

tragen; und als die geistlich dürstende Witwe sich dem Spiritismus hingab, diente der kräftige Whisky-Trinker auch als Medium.

Dies Zusammenspiel edler Seelen hat der Autor Bond, er entstammt dem Londoner Proletariat, mißtönend verzerrt -- zu einer grotesken Haupt- und Staatsaktion mit Grand-Guignol-Greueln, klappernden Skeletten und Seelen aus Holz.

So läßt Viktoria ihrem Gatten Gift reichen, und weil sie seinem stockenden Sterben nicht zusehen mag ("Ich bin Vorsitzende des Tierschutzvereins"), erwürgt sie ihn mit der blauen Schärpe seines Hosenbandordens.

»Nenn mich Victor«, befiehlt sie Florence Nightingale, die ihr mit Bart und Kilt folgt und so von der Pop-Sängerin Marianne Faithfull, 23, verkörpert wird. Miss Faithfull zählt den Ritter Leopold von Sacher-Masoch ("Venus im Pelz") zu ihren Blutsverwandten.

Im dritten (letzten) Akt, der im Himmel spielt, fällt ihr die Rolle zu, Prinz Arthurs Kopf unterm Rock zu tragen: Viktoria, die den Sohn als Usurpator fürchtet und ihn auch im Himmel nicht für tot hält, läßt den Prinzen tranchieren und vom Hofstaat verspeisen.

Aber trotz des kannibalischen Endes und des vernagelten Sargs erhebt sich Arthur engelgleich und fährt weiter gen Himmel. »Dem Helden gelingt die Flucht«, sagt Autor Bond, »darum ist es ein optimistisches Stück.«

Bond, der wie sein weltbekannter Namensvetter einen Hang zum Krassen und Kruden zeigt, hatte schon mit einem früheren Schauspiel Schrecken verbreitet: Der Halbstarken-Schocker »Gerettet«, in dem ein Säugling gesteinigt wird, mobilisierte den englischen Zensor; in Deutschland lief das Talent-Stück bislang über 14 Bühnen.

Auch bei seinem Filmwirken -- etwa Dialoge für Antonionis »Blow up« -- fühlte sich der »Babyface-Genet« ("Sunday Times") vom Zensor eingeengt. Bond hofft, eines Tages die »ideale Heldin« für den Strengen zu finden: »ein Mädchen ohne Brustwarzen und Schamhaare«.

Weil nun die Gegenwart von solch »viktorianischer Heuchelei« dominiert sei, hob er die Keule wider Königin Viktoria; aber treffen Wollte er, sagt er, die Zeitgenossen.

Den Hieb aufs breite Publikum fing der Zensor, dessen Amt demnächst liquidiert wird, vorsorglich ab. »Early Morning« lief als geschlossene Klub-Veranstaltung; am vorletzten Wochenende wurde ihm auch dieses Exklaven-Dasein untersagt.

Der Dramaturg und Kritiker Kenneth Tynan, der für Hochhuths Churchill-Pasquill »Soldaten« ins Feuer gegangen war, blieb vor Bonds krauser Exzentrik kühl. »Eine bessere Aufführung hätte gezeigt«, schrieb er, »wie schlecht das Stück ist.«

Königin Viktoria liebte bei derlei Gelegenheit viktorianische Distanz. Als ihr einmal ein Bühnenspiel mißfiel, erhob sie sich und sprach die seither geflügelten Worte: »We are not amused« -- Wir sind nicht belustigt.

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