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Pop Ganz natürlich

Aufregung unter den Teenagern in aller Welt: Ist ihr Idol Michael Jackson ein Kinderschänder?
aus DER SPIEGEL 35/1993

Es sollte eine seiner märchenhaften Inszenierungen werden. Adrett gekleidet, in bunten Sonntagsanzügen, die Hände voller Süßigkeiten standen ein paar hundert auserwählte Kinder im Prunksaal eines Luxushotels in Bangkok.

Aber statt des selbsternannten »King of Pop« stieg einer seiner Assistenten auf die Bühne und schaltete ein Tonband ein. »Es tut mir leid, daß ich heute nicht auftreten kann«, sagte die dünne, vor Nervosität bebende Stimme von Michael Jackson, »ich bin wirklich sehr krank. Ich liebe euch.«

Der bislang als asexuell geltende Superstar liebt womöglich zuviel.

Die erste Anschuldigung schien zunächst nicht mehr zu sein als eines jener Schmuddelgerüchte, denen Weltstars häufig ausgesetzt sind. Doch die angeblichen Beschuldigungen des 13jährigen Jordan Schwartz lösten eine Welle von Mutmaßungen und Verdächtigungen aus, welche die Karriere des Popsängers zu zerstören drohten, noch bevor sie aufgeklärt waren.

Jackson habe ihn als Sex-Spielzeug benutzt, soll Schwartz seinem Psychiater Mathis Abrahams gebeichtet haben, es sei auch zu »oralem Verkehr« gekommen. »Das zwischen uns ist ganz natürlich«, habe der Star Jordan beruhigt, »aber wenn du petzt, kommst du ins Erziehungsheim.«

Sofort kolportierten amerikanische Zeitungen weitere Details der Affäre und schrieben den größten Popstar aller Zeiten zum Sex-Ungeheuer hoch. Jackson habe den Jungen, der den Sänger mit Mutter und fünfjähriger Schwester seit Februar dieses Jahres fast ständig begleitet hatte, sowohl auf seiner Ranch »Neverland« bei Santa Barbara als auch auf Reisen in Hotelsuiten oder Luxuslimousinen mißbraucht.

Jackson habe Schwartz zu gegenseitigen Masturbationsspielen genötigt. Vergangene Woche weitete die Polizei von Los Angeles ihre Ermittlungen aus: Sowohl die Ranch als auch die Stadtvilla Jacksons wurden durchsucht, drei weitere Jungen aus seinem Bekanntenkreis verhört.

Andere Kinder, darunter der Jungschauspieler Macaulay Culkin, 13, ("Kevin - allein zu Haus") bestätigten zwar das innige Verhältnis zwischen ihnen und ihrem Gastgeber, bestritten aber sexuelle Kontakte. Der Australier Brett Barnes, 11, der ebenfalls seit einiger Zeit mit seiner Mutter auf der Jackson-Farm lebt, sagte: »Er berührt einen nicht anders, als er sollte.« Er habe zwar mit ihm häufig im selben Bett geschlafen, aber Jackson habe sich, »nur so zum Spaß«, angeschmiegt, mehr nicht.

Dann tauchten sogar Gerüchte um einen möglichen Selbstmordversuch des Popsängers auf, die von seinem Schwager, Jack Gordon, noch angeheizt wurden: »Ich bin sicher, daß es so enden wird. Michael ist nicht sehr stark.« Auch Jacksons Schwester LaToya verkündete, sie habe ihren Bruder schon vor Monaten vor seiner Neigung zu kleinen Jungen gewarnt. Manchmal habe er bis zu 50 Kinder in sein Haus eingeladen, manche seien über Nacht geblieben.

Während Jackson drei Tage lang wegen angeblicher »Austrocknung« seine Penthouse-Suite in einem Bangkoker Hotel nicht verließ und erst am Freitag wieder auftrat, Familienmitglieder und Freunde aus Amerika zu Hilfe eilten und sein Leibarzt nichts über den Gesundheitszustand verriet, nutzte Coca-Cola die Situation zu einem Seitenhieb auf Pepsi, für die Jackson Reklame macht. In großen Zeitungsanzeigen der thailändischen Hauptstadt fragten Coca-Werber knapp und bissig: »Ausgetrocknet?« und priesen ihr Produkt an.

Michael Jackson steht vor dem Ruin. Anders als Mick Jagger, der wegen ein paar verbotener Tabletten ins Gefängnis mußte und danach noch mehr Platten absetzte, anders als Axl Rose, der auf einer Grillparty ein Schwein erschoß und damit sein Rockerimage aufbesserte, anders als Madonna, die ihre Videos auf den Index setzen ließ und sie mit der Aura des Verbotenen versehen später in den Läden verkaufte, gibt es bei Kindesmißbrauch kein Pardon. Allein der Verdacht genügt, um eine Karriere zu zerstören. »Egal, wie die Sache ausgeht«, sagt Charles Stern, ein Agent aus Los Angeles, »Michael ist so gut wie am Ende.«

Denn die Verdächtigungen treffen einen Künstler, dessen Image auf Unschuld beruht. Im prüden Amerika, wo Vizepräsidenten-Gattin Tipper Gore gegen schmutzige Texte in der Rockmusik zu Felde zog, setzte Jackson auf Sauberkeit. Seinen Siegeszug verdankt der Weltstar vor allem der Fähigkeit, niemals moralisch anzuecken und alle Gegensätze scheinbar auszugleichen.

Fusion hieß sein Geheimrezept. Jackson verband die schwarzen Wurzeln von Blues und Soul mit der weißen Rockmusik, er schlug ein Rad von den glamourösen Tanzkünsten Fred Astaires zur roboterhaften Körpersprache eines Aliens. Und er machte auf dem Weg zum Erfolg auch vor der Manipulation des eigenen Körpers nicht halt. Chirurgen spitzten die Nase an, verkleinerten die Lippen, schliffen das Kinn ab.

Andere Ärzte bleichten die dunkle Haut. Erst lief er bronze-, dann milchkaffee-, schließlich pinkfarben an. »Er sah aus wie ein Vorher-Nachher-Waschmittel-Spot unter der Regie von Edgar Allan Poe«, schrieb Rockbiograph Philip Norman.

Auf diese Weise zum geschlechts- und rasselosen Fabelwesen geworden, verbreitete Jackson seine Botschaft. »Vertragt euch und seid nett zu Kindern, die Liebe ist alles.« Mit diesem kleinsten gemeinsamen Nenner an moralischer Korrektheit wurde er zu einem der bestbezahlten Amerikaner. Seine Alben »Thriller« und »Bad« sind mit zusammen 71 Millionen die meistverkauften Platten aller Zeiten.

Jacksons Vertrag mit Sony wird auf eine Milliarde Dollar geschätzt, und sein Werbevertrag mit Pepsi, der mit 15 Millionen Dollar dotiert ist, gilt als Abschluß der Superlative.

Stets trug seine Gutherzigkeit neurotische Züge. Der Mann, der sich zu einer Galionsfigur des modernen Pop-Imperialismus stilisierte, wirkte wie ein ewiges Kind. 30 Jahre seines 35jährigen Lebens hat er auf Bühnen, in Plattenstudios und vor Kameras verbracht. Seinem Vater Joe, der ihn schlug, verhöhnte, sexuell mißbrauchte und zur Entertainmentkarriere zwang, wirft er vor, ihm die Kindheit gestohlen zu haben.

Sein Hang zum märchenhaft Mysteriösen läßt Jackson bizarre Dinge anstellen, weshalb ihn manche Kritiker manchmal zu einem modernen Citizen Kane stilisieren. Im Grunde scheint er aber vor allem ein Junge zu sein, der nicht erwachsen werden will.

Es gehört eine Menge Disziplin dazu, wie Greta Garbo sich eine eigene Märchenwelt zu schaffen und hinter einer Maske unsichtbar zu werden. Jackson wollte wie alle Kinder Spaß. Und irgendwann hörte er nicht mehr auf seine zur Vorsicht mahnenden Manager und holte sich das auf seine Ranch, was Nintendo-Spiele und ein eigenes Kino auf die Dauer nicht ersetzen können: echtes Leben.

»Neverland« ist weniger ein Wohnhaus als ein Spielwaren-Supermarkt mit angeschlossenem Vergnügungspark. Karussells, die er auf seinen Tourneen wie Andenken sammelt, hat er auf dem knapp elf Quadratkilometer großen Areal aufstellen lassen; ein Privatzoo wird ständig ausgebaut; Tiere, die ihm, wie Bubbles, der Affe, Muscles, die Boa, und Louis, das Lama, besonders gefallen, avancieren im Hofstaat Jackson zu engen Vertrauten, die er dem Rang entsprechend verwöhnt. Bubbles bekam, bevor er von seinen Wärtern überfahren wurde, erst eine 40 000 Dollar teure antike Uhr geschenkt, dann eine Kegelbahn.

Ansonsten verbringt der Pop-Adlige seine Zeit mit minderjährigen Spielgefährten. Brandon Adams war zehn Jahre alt, als ihn Jackson für eine Rolle in seinem Film »Moonwalker« erwählte. Gleichzeitig wurde der Junge als Jacksons Lebenspartner verpflichtet - er mußte den Sänger zwei Jahre lang begleiten, bei ihm wohnen und sich als sein Doppelgänger kleiden. »Er ist größer und älter als andere Kinder, aber denkt wie sie«, sagt der heute 15jährige.

Der Verdacht von Kindesmißhandlung ist der Höhepunkt der Krise, in der Michael Jackson seit dem Mißerfolg seiner letzten CD »Dangerous« steckt. Die Welttournee mußte im letzten Herbst in Istanbul abgebrochen werden, und weil die Plattenverkäufe dramatisch zurückgingen, erklärte sich Jackson im Februar bereit, sein erstes Fernsehinterview seit 14 Jahren zu geben.

Über 100 Millionen Zuschauer erlebten in der eineinhalbstündigen Sendung einen verängstigten Menschen, der, wie Regisseur Steven Spielberg seinen Eindruck beschrieb, »mehr einem Reh in einem brennenden Wald« als einem mächtigen Popstar glich.

Jackson, nach der langen Zeit des Schweigens auf einmal mit den Gerüchten über ihn konfrontiert, geriet ins Stammeln. Nein, er übernachte nicht in einer Sauerstoffkammer, nein, er habe nicht versucht, die Knochen des Elefantenmenschen zu kaufen. Als ihn die Interviewerin Oprah Winfrey fragte, ob er noch Jungfrau sei, errötete er. »Wie können Sie so etwas fragen, es ist mir peinlich. Ich bin altmodisch. Ich bin ein Gentleman.«

Den Angriff der Wirklichkeit auf seine Märchenwelt hat Michael Jackson selbst initiiert, und es ist nun mehr als fraglich, ob er ihn übersteht. Der King of Pop hat sich in einen neurotischen Freak verwandelt. Vom mysteriösen Exzentriker blieb nur ein Kunst-Wesen übrig, das sich auf das monströse Experiment eingelassen hat, die größte Projektionsfläche der Entertainmentgeschichte zu werden, die jetzt langsam zerbröselt.

»Sind Sie glücklich?« fragte Oprah Winfrey. Jacksons Antwort: »Ich bin glücklich, am Leben zu sein.«

Selbst das ist nicht mehr sicher. Y

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