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HORMONE Gebremster Unhold

aus DER SPIEGEL 42/1966

Zum dritten Mal stand der Angeklagte

vor dem Richter, der gleichen Straftat wegen: In Kaufhaus-Fahrstühlen und Parkanlagen hatte er sich vor älteren Frauen in »schamverletzender Weise« entblößt.

Während das Gericht die Gesellschaft vor dem Wiederholungstäter zu schützen trachtete, suchte der Delinquent Schutz vor sich selbst. Der 26jährige Ehemann und Vater von drei Kindern begab sich in die Sprechstunde des Instituts für Sexualforschung an der Universität Hamburg. Dem Mann konnte geholfen werden.

Was 50 kostspielige Sitzungen einer verangegangenen Hypnosebehandlung nicht vermocht hatten, erreichte nun in der Uni-Klinik der Wissenschaftliche Rat Dr. Werner Krause - mit Pillen: Der Exhibitionist wurde durch eine Hormonbehandlung von seinem Drang befreit und ist seither nicht rückfällig geworden:

Das triebhemmende Hormonpräparat ("Bild«, »Anti-Sexpille") wurde von Forschern der Schering AG Berlin in den vergangenen drei Jahren entwickelt. Seit knapp einem Jahr wird es von einigen Wissenschaftlern, darunter dem Hamburger Sexualforscher Krause und dem Psychiatrie-Professor Gerhard Mall an der-Pfälzischen Nervenklinik in Landau, auf seine klinische Brauchbarkeit erprobt.

Mall letzte Woche über die Bedeutung der Versuche: »Sie eröffnen Perspektiven, die früher niemals für möglich gehalten wurden.« Erstmals gibt die Entdeckung der Berliner Hormonforscher - Name des Präparats: Cyproteron - den Ärzten ein Mittel in die Hand, den männlichen Sexualtrieb zu neutralisieren, ohne daß unerwünschte Nebenwirkungen auftreten.

Bislang verfügten die Mediziner nur über zwei unzulängliche Methoden, Patienten von krankhaft übersteigertem Geschlechtstrieb zu befreien. Beide. Verfahren - chirurgische Kastration und Behandlung mit weiblichen Sexualhormonen - zeitigen unangenehme Folgen Kastrierte Triebmenschen klagten über Depressionen und einen Verlust an seelischer Dynamik, Hormon-Behandelten wuchsen weibliche Rundungen - unliebsame Nebeneffekte, die bei Cyproteron-Anwendung nicht beobachtet wurden.

Die triebdämpfende Wirkung des Cyproterons wurde zunächst im Tierversuch von dem Schering-Wissenschaftler Dr. Friedmund Neumann, 31, aufgedeckt. Das Hormon - es sollte ursprünglich in der gynäkologischen Praxis eingesetzt werden - löste überraschende Wirkungen aus, wenn es männlichen Ratten eingespritzt wurde: Prostata und Hoden der Rattenböcke verkümmerten, Potenz und Libido erloschen. Offenbar, so schloß Neumann, blockierte die Substanz den Wirkmechanismus der männlichen Sexualhormone.

Bislang freilich blieb ungewiß, ob sich alle Forschungsergebnisse, die in den Rattenexperimenten gewonnen wurden, auf den Menschen übertragen lassen. Die klinischen Versuche mit Cyproteron, die seit Anfang dieses Jahres in

Berlin, Landau und Hamburg unternommen wurden, sind noch zu spärlich, als daß sie schon verbindliche Schlußfolgerungen zuließen.

Bisher wurde die Schering-Substanz - neben Versuchen zur Therapie von Prostat-2-Krebs - vornehmlich bei der Behandlung »hypersexueller« Männer erprobt. Wie bei dem unglücklichen Exhibitionisten - dessen Sexualdruck von täglich drei auf nur mehr gelegentliche Kohabitationen gedrosselt wurde - konnte Sexualforscher Krause auch bei den übrigen elf Cyproteron-behandelten Patienten »sehr gute Erfolge« verzeichnen.

Allerdings wurde das Präparat, das

noch nicht im Handel ist und von der Schering AG nur zu Forschungszwecken abgegeben wird, bislang fast ausschließlich bei relativ harmlosen Sex-Tätern angewandt. In allen Fällen hatten die

- zumeist einschlägig vorbestraften -

Versuchspersonen von sich aus um eine Behandlung nachgesucht.

Trotz der ermutigenden Resultate bleibt fraglich, ob schon in absehbarer

Zeit die Brems-Pille, wie »Bild« meinte, »als schlagkraftige Waffe« gegen gefährliche Sexualverbrecher eingesetzt werden kann.

Zum einen wirkt Cyproteron nicht zielgenau nur gegen die fehlgeleiteten Sexualtriebe, sondern bringt Potenz und Libido generell zum Versiegen - eine Maßnahme, gegen die sich vermutlich gerade die Aggressiven unter den Sexual-Unholden sträuben würden.

Zum anderen sind die Forscher noch Im Ungewissen über die angemessene Dosierung des Hormonpräparats. Und der therapeutische Vorteil, daß die Sex -Bremse auf Wunsch jederzeit wieder gelockert werden kann, würde sich bei einer Verbrechens-Vorbeugung eher als Nachteil auswirken: Sobald der Patient die Besänftigungspillen zu schlucken versäumte, wäre er seinen fatalen See-Trieben ausgeliefert wie zuvor.

Indes im Medikamentenschrank des Dr. Krause liegt seit etlichen Wochen ein abgewandeltes Hormon-Präparat, das demnächst erprobt werden soll: Die Schering AG in Berlin entwickelte Cyproteron in flüssiger Form - es kann mit einer Spritze verabreicht und für längere Zeit im Körper gespeichert werden.

Hormonforscher Neumann

Tabletten gegen Sexualverbrecher?

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