Theater »GEBT UNS EIN LEITBILD«
Wie hat es Ihnen denn gefallen?« erkundigt sich der Interviewer, »ganz toll«, sagt der davoneilende Theaterbesucher.
Es war nicht irgendeiner. Als der Schauspieler Henry Hübchen kürzlich am Premierenabend von Ibsens »Frau vom Meer« ins Parkett lief, um anstelle der Fernsehmoderatoren die Zuschauer selbst zu befragen, spielte ihm der Zufall auch jenen Mann vors Mikrofon, ohne den es das neue Projekt »Volksbühne« vermutlich nicht gäbe: den Ex-Intendanten und Theaterdenker Ivan Nagel.
Der hatte, als nach dem Mauerfall über die Zukunft der Berliner Bühnen verhandelt wurde, den Vorschlag gemacht, das Haus am Rosa-Luxemburg-Platz einer jungen Truppe zu übergeben, die »bis zum Beginn des dritten Jahres entweder berühmt sein könnte oder tot«.
Gemeint waren der Regisseur Frank Castorf, geboren 1951 in Ost-Berlin, aufgewachsen ebenda, berüchtigt als Klassiker-Zertrümmerer seit seiner Strafversetzung ins pommersche Anklam, und jene jungen Regisseure, die sich ihm zugesellen würden. Noch ist die Frist nicht abgelaufen, aber auch die erbitterten Feinde des Hauses werden nicht bestreiten, daß es heute alles andere ist als tot.
Frank Castorf mag das rabiate Wort von Gutachter Ivan Nagel, es kann ihm allerdings auch nicht mehr viel anhaben. Deutschlands Kritiker wählten seine Bühne zum »Theater des Jahres«. Gleich mit zwei Inszenierungen war sie zum Berliner Theatertreffen 1993 geladen.
Die Klientel dieses Hauses lassen solche Ehrungen kalt. Das Durchschnittsalter der Volksbühnenbesucher liegt knapp unter 20. Castorf und seinen Freunden ist es gelungen, eine Generation wieder ins Theater zu locken, die in dieses Medium keinerlei Hoffnung mehr setzte.
Das monumental-scheußliche Haus am Luxemburg-Platz hatte schon einmal eine Blütezeit, als in den zwanziger Jahren Erwin Piscator hier sein vitales, agitatorisches Theater machte. In den letzten Jahren der DDR kam der »Panzerkreuzer«, wie Castorf den Bau am liebsten nennt, restlos zuschanden. Ob der Leichnam wiederzubeleben sei, war eine der Sorgen des überraschend zum Theaterleiter avancierten jungen Wilden.
Nach anderthalb Jahren Arbeit steht fest: Die Theatermacher der Volksbühne haben ihr Ziel erreicht - sie stiften Unruhe. Kaum vorstellbar, daß eine andere Bühne solche Haßtiraden im Publikum auslösen, Kritiker dermaßen in ideologische Sittenwächter verwandeln könnte. Der Kollege von der Frankfurter Allgemeinen holte sogar zur Publikumsbeschimpfung aus: »Wilde weinerliche DDR-Exoten« nannte er die in Ost-Berlin behausten Theaterbesucher.
Was entfacht diesen Furor? Castorf bleibt sich und seiner Geschichte treu. Den »Räubern«, dem »König Lear«, Arnolt Bronnens »Rheinischen Rebellen« stülpte er die zu Ende gegangene DDR als seine unheilbare Neurose über, er spielte sie zu Ende auf seine Art: penetrant, stur, komisch, sentimental. Diesen Wiederholungszwang nahmen ihm die West-Kritiker übel. Aber vielleicht war die Beharrlichkeit notwendig, an diesem Ort, für dieses Publikum.
Das zweite Vergehen: Castorf nimmt keine Rücksicht. Erst recht nicht auf die Ästhetiker in seiner Fangemeinde. Er quält mit szenischen Kalauern unter jedem Niveau, er erlaubt sich die dümmsten Namenswitze - im »Lear« werden unzählige Kohlköpfe zertrümmert -, er zelebriert seine anale Phase als eine unendliche Geschichte, er zitiert sich schamlos selbst.
Aber er hat ein paar der hinreißendsten Schauspieler, die auf deutschsprachigen Bühnen zu sehen sind: den Akrobaten Henry Hübchen, die manngewordene Strapaze Herbert Fritsch, die todesmutige Kreischkünstlerin Silvia Rieger und neuerdings Corinna Harfouch, die schöne, ernste Heroine des DDR-Theaters. Sie riskieren jeden Abend, sich in Castorfs extremem Slapstick-Theater alle Knochen zu brechen - und haben daran auch noch Spaß.
Das Spielenwollen mit der Wirklichkeit außerhalb der Bühnen verbindet Castorf mit dem Schweizer Regisseur Christoph Marthaler, dessen patriotischer Liederabend »Murx den Europäer! Murx ihn! Murx ihn ab!« mittlerweile zur Kultveranstaltung geworden ist.
Viele Zuschauer haben sich diese Horrorshow kleinster, alltäglicher Unfälle schon vier- bis fünfmal angesehen, aufflackernde Feuerzeuge künden von der Solidarität des Publikums mit den Anti-Helden auf der Bühne. »Murx den Europäer . . .« ist ein traumwandlerischer Abgesang auf den Büromenschen und seine Rituale, wildgewordenes Biedermeier.
Marthaler, der einmal im Jahr hier inszenieren wird, und Castorf sind Ironiker und Brüder im Geiste. Neben ihnen toben sich zornige junge Männer aus: Andreas Kriegenburg und der an Deutschland notorisch irre werdende Berufsdilettant Christoph Schlingensief, der ein Stück über die letzten 24 Stunden des aidskranken Neonazis Michael Kühnen probiert - »in Verbindung mit den Regionen unter dem Gürtel, mit der Nacht, mit den Mythen«. »Kühnen '94. Bring mir den Kopf von Adolf Hitler!« heißt das Spektakel, Premiere ist Silvester.
Mit Besuch aus der rechten Szene - an diesem Abend wird er kaum ausbleiben - hat das Haus schon Erfahrung. Bei der zweiten Aufführung von Castorfs »Clockwork Orange« brachte ein Dutzend Skinheads sein Mißfallen an der freien Interpretation der Vorlage pöbelnd zum Ausdruck.
Konfrontation um jeden Preis? Auch das gehört zum Profil dieser Bühne, und gewiß ist es ein Charakteristikum jenes Künstlers, der vom nächsten Sommer an fest dazugehören wird: der Choreograph Johann Kresnik. Zwei Produktionen des politisch korrekten Linksdogmatikers laufen schon: »Ulrike Meinhof« mit Tänzern aus Bremen und »Rosa Luxemburg - Rote Rosen für Dich« mit Schauspielern der Volksbühne.
»Spaß machen«, murmelt der chronisch übermüdete, immer redewillige Castorf angestrengt, »Spaß machen soll es doch auch.« Und: »Laßt uns doch etwas spielerisch umgehen mit dieser Wirklichkeit!« (siehe SPIEGEL-Gespräch). Sagt es und verdüstert den Blick hinter der dünnrandigen Brille: ein strenger Lehrmeister. Dann lacht er plötzlich auf.
Dieses Lachen hat nie etwas mit anderen zu tun, sondern immer nur mit sich selbst. Er wird nicht mitteilen, was ihn belustigt. Es ist sein Autismus, seine Kraftquelle.
Berühmt oder tot, hieß die Alternative vor drei Jahren. Die Volksbühne ist berühmt geworden. Sie ist der Ort, an dem vor übervollem Parkett Birgit Breuel mit Friedrich Schorlemmer streitet oder Eberhard von Brauchitsch mit Gregor Gysi. Der Ort, an dem Berliner Obdachlose ihr Theater vorführen und die Berliner Rock-Avantgarde ihre Kompositionen, ein Ort, an dem Skinheads bereit sind für Gespräche.
»Gebt mir ein Leitbild« heißt es auf Plakaten im Foyer. Ein dramatischer Wunsch. Er ist unerfüllbar, aber er wird gehört, immerhin.