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MEDIZIN / KUSSKRANKHEIT Gefährliche Labsal

aus DER SPIEGEL 25/1967

»Halb gebissen, halb gehaucht, halb die Lippen eingetaucht«, so erdichtete Barock-Poet Paul Fleming, »wie er wolle geküsset sein«.

Seit je hat die empfindungsreiche Zärtlichkeit erfindungsreichen Dichtergeist entzündet. Nun aber wird sie hart verdächtigt: Die Labsal der Liebenden, argwöhnen die Mediziner, sei ein Quell der Krankheit.

Küsse, der US-Mediziner Dr. Kenneth Rose sprach es aus, können »jene Erkrankung übertragen, die am häufigsten junge Leute eine Zeitlang arbeitsunfähig macht": das Pfeiffersche Drüsenfieber (infektiöse Mononukleose), nach der Ansteckungsart auch »Kissing disease« (Kußkrankheit) genannt.

Fälschlicherweise, rügte Rose auf einer Ärztetagung in Washington, hätten die Ärzte bislang die rätselhafte Krankheit als kurios und ungefährlich abgetan. Der Nürnberger Internist Professor Friedrich Meythaler erklärte das Liebes-Leiden kontaktfreudiger Teenager letzten Monat in der »Deutschen Medizinischen Wochenschrift« gar zur »Zivilisationsseuche«.

Die Krankheit, deren Opfer von geschwollenen Hals-Lymphknoten, Fieber, Schüttelfrost und Kopfweh -gepeinigt werden, ist im Vormarsch.

Auf das Vierfache stieg, einer schwedischen Statistik zufolge, in zwei Jahrzehnten der Anteil an Kußkranken in Stockholms Kliniken. In den Vereinigten Staaten hat sich die Zahl der Drüsenfieber-Kranken seit 1960 mehr als verdoppelt. Derzeit, so schätzte US-Mediziner Alfred 5. Evans auf der Tagung in Washington, sinken alljährlich 10 000 US-College-Studenten -- etwa einen Monat nach dem ansteckenden Kuß -für Tage oder Wochen ins Krankenbett. Geschätzte Hospital-Kosten der Kußkrankheit in den USA: jährlich rund sieben Millionen Mark.

Trotz weltweiter Verbreitung des Leidens und epidemieartig steigender Krankenzahl sind die Mediziner, wie das US-Fachblatt »Medical World News« jüngst notierte, »seit einem halben Jahrhundert in derselben Verlegenheit: Sie vermögen die Mononukleose weder zu kurieren noch ihre Ursachen aufzuspüren«.

Seit der Jahrhundertwende sind die Symptome in den Lehrbüchern verzeichnet -- nicht aber die Art der Übertraguns. 1920 entdeckte ein Ärzteteam der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore (US-Staat Maryland) erstmals mysteriöse Blutveränderungen bei den Kranken: Ihr Körper produziert ungewöhnlich viele abnorm große weiße Blutkörperchen.

Doch erst vor knapp zwei Jahrzehnten fand sich ein erster Hinweis auf die Übertragungsart. Zwei Tage vor Weihnachten des Jahres 1950 lernte ein Kadett der Militärakademie West Point (US-Staat New York) auf einer Zwölf-Stunden-Bahnfahrt eine Medizinstudentin kennen und küssen. Als hernach Studentin und Kadett gleichzeitig mit Pfeifferschem Drüsenfieber das Bett hüteten, zog West-Point-Arzt Dr. Robert J. Hoagland den Indizien-Schluß, die Reisegefährten müßten mit den Zärtlichkelten auch den Keim der Krankheit ausgetauscht haben. Hoaglands Verdacht wurde bestärkt, als er feststellte, daß regelmäßig einige Wochen nach dem Heimaturlaub die Zahl der Pfeiffer-Kranken unter den Kadetten anstieg.

Die Kuß-Theorie ist gut vereinbar mit der Tatsache, daß die weitaus meisten Pfeiffer-Patienten einer erotisch besonders interessierten Altersgruppe angehören -- es sind End-Teenager und Jung-Twens. Allerdings sind mittlerweile noch andere, indirekte Keim-Übermittler entdeckt worden, so vor allem die von Mund zu Mund kreisende Cola- oder Bierflasche.

Aus dem Verhalten des Erregers glauben die Mediziner schließen zu können, daß er ein Virus ist. Das macht seine Bekämpfung schwierig. »Die medikamentöse Therapie«, resümierte der Nürnberger Professor Meythaler, habe bisher keine »spezifische Wirkung« auf die Mononukleose.

Auch im Labor der Forscher verhielt sich das anscheinend allgegenwärtige Kußkrankheits-Virus widerspenstig. Der amerikanische Epidemiologe Dr. James C. Niederman beispielsweise hatte versucht, 90 Freiwillige unter kontrollierbaren Bedingungen anzustecken. Er übertrug ihnen Rachenabstriche, Blutserum und Blut von Drüsenfieber-Kranken.

Aber das Experiment mißlang. Bei 21 der Versuchspersonen war das Ergebnis zweifelhaft, die übrigen 69 verspürten überhaupt keine Anzeichen von Krankheit.

Den Keimen, scheint es, widerstrebt die Eros-arme Atmosphäre eines kontrollierten Tests. So sah sich auch Kußkrankheits-Forscher Hoagland schon veranlaßt, den Kuß, der Krankheit birgt, exakter zu umschreiben. Hoagland auf dem Kongreß in Washington: »Nicht einfach ein Stupser auf die Backe, sondern ein Küssen mit mehr als kindlicher Intensität.«

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