Theater Gefällte Bajonette
Ich bin«, spricht der Regisseur Peter Stein, 34, »ein schlimmer Eklektiker. Wenn jemand mit einem goldglitzernden Arsch über die Bühne läuft und das ganz prima ist, übernehme ich es sofort.«
Wahr ist: Stein hat höchst unterschiedliche Vorbilder ausgebeutet, und seine Inszenierungen sind nicht auf einen Stilbegriff zu bringen. Kraß realistisch hat er Edward Bonds Kindsmörder-Stück »Gerettet« auf die Bühne gebracht, Goethes »Tasso« bot er als grotesk verfremdete Zeremonie, Ibsens »Peer Gynt« als siebenstündige Zirkus-Show mit Knall-Effekten.
Gemeinsam immerhin war diesen drei Inszenierungen ihr Erfolg: Die Kritiker erhoben sie jeweils zur »Aufführung des Jahres«. Spätestens seit der Ibsen-Premiere vor einem Jahr ("Die Zeit": »Höhepunkt deutschen Theaters") gilt Stein als Primus der jüngeren Regie-Garde und gilt das Team der Berliner »Schaubühne am Halleschen Ufer«, mit dem er seit zwei Jahren kollektives Arbeiten probt, als bestes deutsches Theaterensemble.
Zum erstenmal seit »Peer Gynt« steht Steins Ruf auf dem Spiel, wenn am Dienstag dieser Woche das Revolutionsstück »Optimistische Tragödie« (1933) des Sowjetrussen Wsewolod Wischnewski »Schaubühnen«-Start hat.
Stein inszeniert nur selten (bisher neunmal), dafür gründlich -- diesmal acht Wochen lang. Doch noch bevor er seine Akteure mit gefälltem Bajonett zum Drama .der »Kommissarin« antreten ließ -- einer bolschewistischen Jeanne d'Arc, die aus einem Anarchisten-Haufen ein Regiment formt
hatte der Regisseur sie zu einführenden Studien angehalten. Die Schauspieler lasen Revolutionsliteratur, sahen Revolutionsfilme und übten militärisches Reglement.
Mit solcher an deutschen Theatern ungewöhnlichen Fleißarbeit soll, wie stets bei der »Schaubühne«, ein »historischer Tatbestand ermittelt« werden (Stein). »Natürlich« ist der Regisseur trotz äußerster historischer Treue bei Kostümen und Requisiten nicht geradezu »der Meinung, das wäre nun die russische Revolution, die wir darstellen«. Vielmehr will Stein an Kampf und Heldentod der Kommissarin »den Aufbau des Sozialismus beispielhaft« zeigen.
Der Bühnen-Klassenkämpfer, der eine zeitweilig getragene Zopf-Frisur inzwischen gestutzt hat, stammt aus gutbürgerlichem Hause. Als Sohn eines Frankfurter Industrie-Managers hat er acht Jahre lang Germanistik und Kunstgeschichte studiert und eine Dissertation über »Bildvorstellungen der Romantik, speziell bei E. T. A. Hoffmann« angefangen. Heute freilich moniert er, daß ihn seine Lehrer »schamlos belogen haben«, da »die Geschichte der Arbeiterbewegung bei ihnen nicht vorkam«. Doch gilt ihm die »Übersetzung von Bildern in Sprache, von Sprache in Bilder«, die ihm auf der Universität nahegebracht worden ist, weiterhin als »Zentrum aller Kunstbemühungen«.
Seinen Fundus an Vorstellungsbildern, von dem er, »eklektisch«, noch immer zehrt, hat Stein zur Studienzeit, aber auch auf Theater-Bildungsreisen durch ganz Europa aufgefüllt, so daß er sich nun über den Ausbildungsstand seiner Regiekollegen mokieren kann. Gut vorbereitet, wurde er 1964 Regieassistent an den Münchner Kammerspielen und lernte bei Fritz Kortner.
Gleich seine erste selbständige Inszenierung, »Gerettet« (1967), wurde zur »Jahres-Aufführung«. Ein Jahr darauf mußte er die Kammerspiele verlassen, nachdem er bei seiner Premiere des »Viet Nam Diskurs« von Peter Weiss beim Publikum Geld für den Vietcong gesammelt hatte; in Bremen ("Tasso") fand er neues Engagement.
Er fand dort auch den Kern einer Schauspielertruppe, mit der er später in Zürich (an Bonds »Early Morning") arbeitete und die seit 1970 die Berliner »Schaubühne« bildet.
Ohne phantasievolle Schauspieler, die ihm »starke Anregungen« verschaffen, könnte Stein ("Ich habe einen erstaunlichen Mangel an Vorstellungsvermögen") sowenig inszenieren wie ohne seinen Bildungsschatz. So begnügt er sich denn auch willig mit der »Schaubühnen« -Höchstgage von 2500 Mark im Monat und ist, um eine »unnötige Autoritäts-Akkumulation« zu vermeiden, vor kurzem aus dem Direktorium des Theaters ausgetreten.
Dennoch prägen Steins Vorlieben und Abneigungen den Betrieb der »Schaubühne«. »Theoriefeindlichkeit« sowie »Zufälligkeit der Arbeitsweise«, die er selbst eingesteht. haben zum Kummer mancher Kollegen bis heute theoretische Grundsatzreflexionen verhindert. Eine ästhetische Theorie wie die des Ost-»,Berliner Ensemble"« das übrigens schon dreimal die »Optimistische Tragödie« herausgebracht hat, ist am Halleschen Ufer vorerst nicht zu erwarten.
»Wer von uns soll das machen?« fragt Stein. »Mir ist das viel zu blöd.«