LEBENSART Gefäße für Gesäße
Den Gebrauch von Gabeln sieht der Architekt und amerikanische Ausstellungsmacher Bernard Rudofsky fast so kritisch wie die Kirchenmänner des 15. Jahrhunderts, die von den »Klauen des Teufels« sprachen. »Es ist doch grotesk, Salatblätter mit der Gabel aufspießen zu wollen«, sagt Rudofsky, der dem »kulinarischen Waffenarsenal« unseres Tafelsilbers asiatische Eßstäbchen oder die Finger vorzieht.
Auch die westliche Art sich zu kleiden findet Rudofsky höchst unvernünftig. Die Wickelhose der indischen Männer, den »dhoti«, preist er dagegen als »Symbol nationaler Freiheit und Bewahrer der Männlichkeit, indem er Hodenfreiheit gewährt«, im Unterschied zu den Jeans, »dem idealen Beinkleid für Kastraten«.
Die spitzen, symmetrisch geschnittenen Schuhe sind nach Rudofsky ein »Sinnbild unseres Mangels an Kultur«. Eigentlich müßten die Menschen die große Zehe in der Mitte tragen, wenn sie dem »perversen Ideal« der Schuhdesigner gerecht werden wollten.
Kulturkritiker Bernard Rudofsky, 82, dessen Bücher in viele Sprachen, aber noch nie ins Deutsche übersetzt worden sind, drängt nun auch hier zum Nachdenken über die Lebensart. In einem neuen Buch und einer soeben im österreichischen Museum für angewandte Kunst in Wien eröffneten Ausstellung erteilt er dem Alltags-Lifestyle miserable Noten. _(Bernard Rudofsky: »Sparta / Sybaris. ) _(Keine neue Bauweise, eine neue ) _(Lebensweise tut not«. Residenz Verlag, ) _(Salzburg. - Ausstellung bis zum 1. ) _(Februar 1988. )
Wie wir wohnen, essen, schlafen, baden, uns kleiden und uns entleeren - das ist seiner polemischen Meinung nach mit einem Wort »barbarisch«. Wir haben, so Rudofskys Vorwurf, »das Unbehagen in der Kultur mit dem Behagen in der Unkultur vertauscht«.
Anzeichen für den Irrweg sieht er schon bei Leonardo da Vinci, weil dieser Jesus und seine Jünger bei seinem Abendmahl-Gemälde auf Stühle gesetzt habe. In Wirklichkeit hätte die Tischrunde lässig und unverkrampft im Liegen diniert .
Gegenüber den modernen Gewohnheiten will Rudofsky »all das Versäumte, Vergessene und Verkannte aus alten und fremden Kulturen als Quellen von Lebenskunst aufdecken«. Damit beschäftigt sich der 1935 nach New York emigrierte Österreicher, der als Professor an der Yale-Universität und in Tokio wirkte, seit seiner ersten Ausstellung im Museum of Modern Art im Jahre 1944. Sein Fazit nun: »Keine neue Bauweise, eine neue Lebensweise tut not.«
»Sparta / Sybaris«, der Haupttitel der Ausstellung, zusammengesetzt aus zwei antiken Städten mit gegensätzlichem Lebensgefühl, steht für die Spannung zwischen spartanischer Einfachheit und sybaritischem Luxus, in der sich Rudofskys Kritik bewegt. Beide Eigenschaften findet Rudofsky besonders vernünftig im japanischen Wohnhaus verbunden .
Wie ein Aphoristiker, dem es mehr darauf ankommt, Erkenntnisse zu provozieren als Wahres zu formulieren, bringt Rudofsky seine Botschaft nach Bernard Shaws Maxime an den Betrachter: »Wenn man in dieser Welt etwas nicht auf eine irritierende Art sagt, kann man es ebensogut ungesagt lassen.«
Aus dem heutigen Amerika präsentiert er die Stop-and-go-Gabel, in deren Griff ein grünes und ein rotes Licht eingearbeitet ist: sechs Sekunden, um den Bissen in den Mund zu stopfen, 25, um ihn zu kauen.
Aus dem 17. Jahrhundert führt er eine Erfindung von Sanctorius vor, einem Arzt im italienischen Padua. Dessen Eßstuhl, nach dem Prinzip einer Waage konstruiert, zügelte in der Manier eines mechanischen »Weight Watchers« die Nahrungsaufnahme: War die kritische Menge verschluckt, rückte der Tisch außer Reichweite.
Rudofsky zeigt Schaukeln und Schaukelpferde aus vergangenen Jahrhunderten, damals mit erotischen Phantasien befrachtete »Symbole der Frivolität«. Sie sollen in manchen Kulturen den Frauen die auf Reisen befindlichen Männer ersetzt haben.
Schaukelgeräte wurden auch für medizinische Zwecke eingesetzt, zum Lindern von Schmerzen vornehmlich. Auf Schaukeldrachen
wurden Patienten zu therapeutisch gemeinten Hexenritten geschnallt. Rüttelstühle sollten der »Entladung aufgestauter Libido« dienen. Die Shaker, eine Sekte in Nordamerika, nutzten große Wiegen dazu, Sterbende in den Tod zu schaukeln. Und heute kommt der Schaukelstuhl der Großväter wieder in Mode.
Ein zartes Revival erlebt auch die Badekultur, deren Blüte im Mittelalter Rudofsky vielfach illustriert. Die Badestube war damals ein Ort der Geselligkeit und Entspannung, in großen Bottichen trafen sich die Menschen zum Essen, Lieben und Unterhalten.
Über »die Möblierung, die jede Wohnung über sich ergehen lassen muß«, beklagt sich Rudofsky besonders: »Die besten Portionen des häuslichen Lebensraumes« würden zugestellt. Zu diesem »Hausunrat« zählt er vor allem die Stühle und die von ihm als »Gefäße für Gesäße« bezeichneten Sessel .
Extrem gesundheitsschädlich erscheint ihm das ganze Sitzmobiliar. Den »Sesselsitzern« stellt er die »Bodensitzer« in den orientalischen und asiatischen Kulturen gegenüber, die bis ins hohe Alter gelenkig blieben. Hierzulande würden schon die kleinen Kinder, »Bodensitzer von Natur aus«, mit Hilfe von Gehschulen und Spezialgestühl schnell zum »artig sitzen« abgerichtet.
Auch die Wiege, das Sinnbild bürgerlicher Familienidylle, rechnet Rudofsky zu den sado-pädagogischen Marterinstrumenten, mit denen Erwachsene auf die wehrlosen Kinder losgehen. Kronzeuge ist ihm ein Braunschweiger Arzt namens Jean Girault: »Beim Schaukeln des armen Säuglings wird die Milch im Magen verkäst und verursacht Leibschmerzen und tödliches Erbrechen.«
Selbstverständlich beschäftigt sich Rudofsky auch mit den intimeren Lifestyle-Bereichen. Kategorisch fordert er »die Abdankung des Porzellanthrons«, der in ganzen Völkern zu Verstopfungsplagen und harten Leibern geführt habe. Der verfehlte Ansatz zeige sich schon darin, daß die westlichen Menschen beim sanitären Mobiliar mit falscher Scham zu Werke gegangen seien. Laut Rudofsky war nichts, was es vorgab zu sein: »Urinbehälter ahmen Saucenschüsseln nach, Terrinen entpuppen sich als Nachttöpfe, Fauteuils als Zimmerklosette.«
Allein »Zimperlichkeit und Dummheit« stünden heute einer »Revision unserer Gewohnheiten im Wege«, die uns wieder zurück in die freie Hocke führen müßte. Denn die ist »die einzig korrekte Stellung« für eine gute und gesunde Darmentleerung, wie jeder Mediziner bestätigt, auch wenn er sich bei seinen Patienten stets teilnahmsvoll nach dem »Stuhlgang« erkundigt.
Rudofsky plädiert für das »Loch im Boden«. Diese spartanisch einfache Lösung brauche keineswegs sybaritischer Raffinessen zu entbehren, wie die japanische Wohnkultur beweise. Dort sei der klassische Abort »ein Platz für Beschaulichkeit, eine Zelle für Philosophen«.
Weil er auf die im Orient übliche Waschung verzichtet, ist der moderne Abendländer auch bei der abschließenden Säuberung ein hygienischer Hinterwäldler. Rudofsky: »Seine Löschpapiermethode ist ebenso untauglich wie das Wedeln eines trockengelaufenen Scheibenwischers. »
Allein beim Urinieren scheint im modernen Leben etwas in Bewegung geraten zu sein. Zwar sind die Emanzen damit gescheitert, die Männlichkeit auf die Klobrillen zu zwingen. Selbst die Softies haben sich, so in »Emma« nachzulesen, wieder erhoben und »pinkeln wieder alles voll«.
Aber Rudofsky verweist auf die zunehmende Zahl amerikanischer Frauen, die im Stehen ihr Wasser lassen. Um mit den Klosettschüsseln nicht in Berührung zu kommen, benützen sie faltbare Papiertrichter - einzeln verpackt erhältlich im Drugstore um die Ecke, vier Stück für zwei Dollar, nach Gebrauch wegzuwerfen.
Bernard Rudofsky: »Sparta / Sybaris. Keine neue Bauweise, eine neueLebensweise tut not«. Residenz Verlag, Salzburg. - Ausstellung biszum 1. Februar 1988.