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RAUSCHGIFT / HASCHISCH-REPORT Gefahr im Getto

aus DER SPIEGEL 14/1971

»I need help«, rief das Mädchen und wand sich in Qualen. Aber das Aufnahme-Komitee des New Yorker Entwöhnungsheims »Daytop Village« blieb unerbittlich: »Lauter, Emily! Wir hören nichts. Und: »Wir brauchen dich hier nicht, du brauchst uns!« Endlich schrie die Süchtige so laut sie konnte: »Help! Help!« und brach schluchzend zusammen.

Die Szene, westdeutschen Fernseh-Bürgern am vorletzten Sonntagabend vorgeführt, markierte den Endzustand einer rauschgiftsüchtigen 21jährigen Amerikanerin -- nach ihrer mörderischen Drogenwanderung von Marihuana über LSD zum Heroin. In dem New Yorker Rehabilitationszentrum »Daytop Village« wird sie -- nachdem das rüde Aufnahmeritual ihre Bereitschaft testete -- drei Jahre lang die Rückkehr ins drogenfreie Leben üben: mit Schock- und Gruppentherapie und durch stetigen Zuspruch der schon Suchtentwöhnten.

Der eindrucksvolle TV-Bericht aus New York und die Meldung, ähnliche Zentren sollten in München und Düsseldorf errichtet werden, wurden zu einem Zeitpunkt ausgestrahlt, da auch bundesdeutsche Politiker, Mediziner, Jugendämter und private Hilfsorganisationen besorgter denn je über die westdeutsche Rauschgift-Szene urteilen. Übereinstimmend wird in öffentlichen Hearings (so in Hamburg) und in amtlichen Lageberichten (so im Jahresbericht des Wehrbeauftragten) berichtet: Seit dem Beginn der Rauschgiftwelle vor über zwei Jahren steigt der Drogenkonsum unter Schülern und Soldaten, Lehrlingen und Studenten unvermindert an.

Beispielhaft für den anhaltenden Boom der sogenannten harten Drogen -von den Aufputschmitteln wie Preludin und Captagon über die Halluzinogene (etwa LSD) bis hin zu den Opiaten -- sind die jüngsten Angaben aus Hamburg. Einer Meldung des Hamburger Jugendrings zufolge sind in der Hansestadt bereits mehr als 500 Süchtige in der Altersgruppe 14 bis 28 Jahre registriert. Doch diese amtliche Statistik scheint noch unvollständig.

So hatten im Herbst letzten Jahres die Mitarbeiter des Hamburger »Release«-Zentrums die Zahl der jugendlichen Fixer noch auf etwa 500 geschätzt. Seither ist, so »Release« -Initiator Hermann Prigann, die Tendenz »absolut aufstrebend": Aufgrund von Tonbandprotokollen« Briefen und Telephonanrufen bei »Release« schätzt Prigann, daß derzeit »rund 1500« Hamburger Jugendliche harte Drogen verwenden. Beratungszentren in anderen Großstädten melden einen ähnlichen Anstieg.

Weiter zugenommen hat aber auch der Gebrauch von Haschisch in der Bundesrepublik -- allein in Hamburg wird die Zahl derer, die mehr oder minder regelmäßig zum Joint greifen, auf 20 000 bis 50 000 geschätzt. Andererseits gilt die lang gehegte und von der Boulevard-Presse immer noch genährte Vermutung, Haschisch sei weithin die »Einstiegsdroge«, die fast zwangsläufig zum Gebrauch harter Rauschgifte führe, als wissenschaftlich nicht haltbar.

Daß vielmehr ein ganzes Bündel »vielfältiger, schwer zu überblickender Bedingungen« für den »Einstiegs«- und »Umsteige«-Effekt auf harte Drogen verantwortlich zu machen sei, hatte schon im letzten Jahr eine umfängliche Untersuchung in der West-Berliner Drogen-Szene gezeigt (SPIEGEL 33/1970). Diese Vermutung wurde jetzt von der bislang umfassendsten Studie über das Hanfdrogen-Problem bestätigt: in einem Report, den Rauschmittel-Experten des amerikanischen Gesundheitsministeriums zusammengestellt haben.

Die 176-Seiten-Studie referiert nicht nur den derzeitigen Stand der medizinischen Marihuana-Forschung, sondern auch die sozialen Auswirkungen und Bedingungen des Cannabis-Konsums. Fazit des Reports, wie es der US-Toxikologe Robert B. Forney formulierte: »Wir wissen über Marihuana bei weitem nicht soviel wie etwa über die Antibabypille.« Weitere intensive Forschung sei notwendig.

Erwiesen scheint immerhin, daß > die Drogen der Hanfpflanze nicht im klassischen Sinne süchtig machen und mithin unter medizinischen Gesichtspunkten auch nicht als Einstiegsmittel für stärkere Drogen gewertet werden können; > die Wirkungen eines Joints von Raucher zu Raucher verschieden und nicht vorhersagbar sind; > Haschisch in normaler Dosierung objektiv kaum feststellbare Auswirkungen auf das menschliche Nervensystem hat und daß > die Frage. ob ein Jugendlicher mit Genuß den ersten Joint raucht und ob er weitermacht, entscheidend davon abhängt, welche Einstellung er mitbringt, aber auch in welcher Atmosphäre ("set and setting") er das Rauschmittel nimmt.

Nach pharmakologischen Maßstäben muß Haschisch selbst bei hoher Dosierung als relativ harmlose Droge gelten. Im Gegensatz etwa zu dem verbreiteten Kopfschmerzmittel Aspirin, das schon bei zehnfacher Überdosierung zu organischen Störungen Beim Aufnahme-Test in »Daytop Village«.

führen kann, treten derartige Schädigungen bei Haschisch erst mit einer Überdosierung von »eins zu einigen Tausend auf« (so der amerikanische Drogenexperte Andrew T. Weil).

Psychische Nebenwirkungen freilich, etwa in Form schwerwiegender Personlichkeitsveränderungen, mögen die amerikanischen Experten bei regelmäßigem und langdauerndem Hasch-Gebrauch nach wie vor nicht ausschließen. Der US-Psychologe Louis J. West etwa beobachtete bei chronischen Haschern Anzeichen von »Apathie und herabgesetzte Aktivität« vor allem »verminderte Fähigkeit, größere Vorhaben durchzuführen«.

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