GUTACHTEN Gefeit und genesen
Schwankend und lallend«, vermerkte der Polizeibericht, entstieg die Gerichtsreferendarin Dr. Christa Dormanns, 32, ihrem demolierten Volkswagen. Auf Mönchengladbachs Blücherstraße hatte sie die Vorfahrt mißachtet und einen Kleinwagen gerammt. Die Insassen, ein Ehepaar mit Kind, erlitten Prellungen.
Das Ergebnis der Blutprobe war eindeutig: 2,01 Promille. Der untersuchende Arzt fand die Delinquentin »leicht bis mittelgradig betrunken«, bescheinigte ihr jedoch »deutliche« Sprache, »guten Orientierungssinn« und »höfliches« Benehmen. Am 16. März dieses Jahres verurteilte das Amtsgericht Mönchengladbach die Verkehrssünderin zu vier Wochen Gefängnis und Führerscheinentzug.
Doch Ende November sprach das gleiche Gericht die Referendarin vom Vorwurf der Trunkenheit frei. Von einem gerichtsärztlichen Gutachten war der Juristin Nothilfe zuteil geworden.
»Diese Frau darf nach 20 Schnäpsen noch Auto fahren«, bestaunte »Bild« den seltsamen Befund der Mediziner. Die »Neue Rhein Zeitung« schrieb von einem »Alkoholwunder«.
Das Gutachten, verfertigt von dem iranischen Dr. jur. Dr. med. Amir Arbab-Zadeh, enthielt eine, sensationelle medizinische These: Das Versagen zweier walnußgroßer Drüsen in der Lendengegend habe der Referendarin folgenlosen Alkoholgenuß erlaubt.
Die Alkoholverträglichkeit der Dr. Dormanns, so mutmaßte der Gutachter, könne mit einer Unterfunktion der Nebennierenrinde (Addisonismus) »in Zusammenhang stehen«. Möglicherweise, so führte er später aus, sei auch eine Dauerbehandlung mit dem Heilmittel Cortison ursächlich beteiligt.
Die überraschende Expertise aus Düsseldorf erschreckte vorletzte Woche Deutschlands Gerichtsmediziner. Der Hamburger Ordinarius für gerichtliche Medizin Professor Erich Fritz etwa befürchtet »einen Ansturm von Alkoholsündern, die Cortison genommen haben«. Denn das Mittel hilft nicht nur Addison-Kranken; es wird auch gegen andere Leiden, etwa gegen Rheumatismus, häufig verordnet.
Ihre Nüchternheit hatte Christa Dormanns bereits am Unfallort beteuert: Vor den schnuppernden Polizisten gab sie an, keinen Alkohol genossen zu haben. Die Beamten rochen es anders.
Schon in der ersten Verhandlung suchte sich die selbst rechtskundige Angeklagte mit einer Reihe von bewährten Einlassungen zu verteidigen: Aufgewühlt durch einen Ehestreit, habe sie am Abend vor dem Unfall das starke Beruhigungsmittel »Vesparax« eingenommen. In der Nacht habe sie, noch betäubt, eine unbekannte Menge Whisky getrunken, am Mittag darauf einen Magenbitter. Am Abend gegen 18 Uhr geschah der Unfall.
Schließlich verblüffte die Referendarin das Gericht: »Ich bin selber überrascht, wieviel ich vertragen kann, ohne betrunken zu werden.« Der Richter verurteilte sie dennoch.
Da kam, im Zuge der Revision, das Gutachten Dr. Arbab-Zadehs. Der Doppeldoktor aus dem Iran, Assistent am Gerichtsmedizinischen Institut in Düsseldorf, hatte die Kollegin einem Alkoholtest unterzogen. Resultat: Trotz des Konsums von einer halben Flasche (400 Kubikzentimeter) 25prozentigen Sherrys innerhalb von 15 Minuten und trotz eines Alkoholspiegels von 2,25 Promille zeigte die Addison-kranke Frau Dormanns keinerlei Wirkung.
Von einem Doktoranden ließ der Gerichtsmediziner sodann 10 000 Berichte von kraftfahrenden Alkoholverdächtigen durchblättern. Ergebnis: Bei drei der überprüften Testberichte fand sich der Hinweis auf »Addisonismus« - und in allen drei Fällen auch der Vermerk: Trotz hohen Alkoholspiegels im Blut keine Ausfallerscheinungen.
Führende Hormonforscher freilich äußerten Zweifel an der von Dr. Arbab -Zadeh vermuteten Beziehung zwischen Addisonismus und Alkoholverträglichkeit. Der renommierte Hamburger Endokrinologe Professor Henryk Nowakowski versicherte: »Eine Nebennierenerkrankung und hormonale Störungen sind als Faktor für den behaupteten Sachverhalt nicht denkbar.«
Meist, so erklären die Wissenschaftler, seien Phasen extremer Alkoholverträglichkeit bei chronischen Trinkern beobachtet worden. Aber auch bei Gesunden gebe es, wie Gerichtsmediziner Professor Erich Fritz erläuterte, »nicht selten Fälle, die auch bei drei Promille noch keine Ausfallerscheinungen zeigten«. Verlassen aber könne man sich auf derlei Trinkfestigkeit nicht.
Bedenken gegen das Gutachten Arbab-Zadehs kamen inzwischen auch der Mönchengladbacher Anklagevertretung. Derselbe Staatsanwalt, der für Christa Dormanns den Freispruch beantragte, hat gegen das Urteil nun Berufung eingelegt und ein weiteres Gutachten angefordert.
Doch selbst wenn die Gerichtsärzte der Referendarin erneut Straf- und Trinkfreiheit zubilligten, könnte ihr der Entzug des Führerscheins drohen: Da sie, als Addison-Patientin, von plötzlich auftretenden körperlichen und seelischen Störungen heimgesucht werden kann, besteht die Möglichkeit, daß ihr die Fahrerlaubnis »auf dem Verwaltungsweg« aberkannt wird.
Aber auch gegen solches Ungemach scheint die Rechtsdoktorin bereits gewappnet. Wie aus ihrem gesetzeskundigen Familienkreis zu erfahren ist, hat sich der Gesundheitszustand der Patientin Dormanns in der letzten Zeit »merklich gebessert«.
Gutachter Arbab-Zadeh
Fahrtüchtigkeit bei zwei Promille?